2 Die Wöchnerinnenkarte

Wann hatte ich angefangen mich auf diese Weise für Bücher zu interessieren? Ich weiß noch eines Tages saß ich in einem Zug, auf der Rückfahrt von einem Familienfest. Bei mir hatte ich eine Schillerbiographie, die ich günstig per Internet erstanden hatte. Ich war begeistert über meine Ersparnis bei diesem Kauf, vor allem da das Buch in tadellosem Zustand war. Man konnte das Druckaroma noch riechen, die Kanten waren messerscharf. Ich hatte mit der Biographie schon einige Zeit verbracht, als beim Umblättern plötzlich ein buntes Kärtchen heraus fiel. Es war keiner der gewohnten Werbeprospekte, keine Antwortkarte oder dergleichen. Es war die Grußkarte einer Mutter aus dem Wochenbett. Zuerst etwas verlegen, betrachtete ich das Frontmotiv unschlüssig, doch schließlich las ich die Karte. Der Text war kurz und nicht sonderlich überraschend: „Mir und dem Kleinen geht es sehr gut, wie geht es dir?“, etwas in der Art. Ich konnte sie dennoch nicht bewältigen. Diese Karte passte so gar nicht in dieses Buch. Ans Weiterlesen ließ sich nicht denken, bis ich nicht eine halbwegs plausible Verknüpfung zwischen beidem hatte. Bevor ich dies allerdings hätte schaffen können, hatte der Zug bereits mein Ziel erreicht.
Doch die Karte blieb auch zuhaus mein Lesezeichen. Ich las sie immer wieder durch, zwischen den Kapiteln, in Denkpausen. Welche Verbindung hatte die Wöchnerin zu diesem Buch? War die Adressaten auch die Leserin? Was brachte so jemanden zu meinem geliebten Schiller? Was hatte ein Mensch, den solch ein anderer Mensch kennt, wohl an dieser, an jener Stelle des Buches gedacht? Den Seiten selbst war nichts anzumerken. Nicht ein einziger Strich, nichts ausradiert, nichtmal ein Eselsohr. Wenn es eine Sie gewesen war, dann eine ziemlich penible und mit Erfahrung bei der Werterhaltung.
Irgendwie war mir diese Situation unangenehm. Was war zu tun? Sollte man der Dame ihre Karte zurück senden mit schönen Grüßen an den Kleinen, oder würde ihr dies peinlich sein, vielleicht sogar Angst machen? Ich kam zu dem Schluss, dass derlei Unternehmungen kaum einen Wert haben würden. Dennoch konnte ich die Karte nicht einfach wegwerfen, selbst als ich das Buch gelesen und meinerseits durch Unterstreichungen und Kommentare gezeichnet hatte. Sie gehörte untrennbar hinzu, auch wenn ich nicht genau erklären konnte wieso.
So sehr dachte ich auch gar nicht weiter darüber nach. Nur las ich plötzlich die Bücher aus der Universitätsbibliothek anders als zuvor. Ich begann mich nicht mehr sonderlich über noch so ausufernde Unterstreichungen und Kritzeleien zu ärgern, als sie vielmehr mit Interesse und Erwartung zu verfolgen. Ich las Text und Kommentar parallel, versuchte beides zur Deckung zu bringen, herauszufinden durch was für eine Vielzahl von Händen diese Bücher vor mir gegangen sein mochten. Teilweise hatten sie für mehr als 50 Jahre Studenten als Grundlage ihres Fachwissens gedient, hatten zig Kilometer in Taschen und Rucksäcken hinter sich und wussten nur zu gut, wie Kaffee schmeckt.
Leider gibt es wenig so lieb- und einfallslos durchgearbeitete Bücher wie die eines Universitätsinstituts. Ich habe nie verstanden, warum Leute genau das neben den Text schreiben, was wortwörtlich dort schon steht. Aber nicht nur, dass sich kaum Persönliches findet, selbst die Arbeitsnotizen sind von einer Banalität, die durch den Hang zum Unterstreichen jedes dritten Wortes nur noch verdeutlicht wird – das Unterkringeln von Fremd- und Fachwörtern — so etwas kann auf Dauer nicht fesseln.
Aus den Unibüchern konnte man nur die interessenlose Verzweiflung lesen, mit der mancher Student sie in Vorbereitung eines Referats durchwühlt hatte, mit Unterstreichungen versuchend sich zumindest Brocken des Textes längerfristig zugänglich zu machen. Und gerade deshalb waren sie durch so viele Hände gegangen, dass sich selbst auf dieser simplen Ebene keinerlei Zusammenhang mehr erkennen lies. Es fehlte das, was diese so intime Karte innerhalb eines völlig sterilen Buches geschaffen hatte: Eine Geschichte

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