Das ganze Leben

Da steht ein Pult vor mir, rechteckig und mit buntem Plastik verkleidet. Auf dem Pult befinden sich sechs Knöpfe, in der Mitte liegt ein Schreibblock. Kein Stift. Links und rechts neben mir stehen  andere Leute an diesen Pulten und schauen nach vorn. Um uns herum ist alles dunkel. Auch ich schaue nach vorn. Da sitzt ein gut gekleideter Herr auf einer Art Hocker und lächelt uns freundlich an. Wir lächeln zurück. Was immer hier passieren soll, es hat wohl noch nicht stattgefunden. „Entschuldigung, aber ich habe keinen Stift“, sage ich. Nun lachen alle. Anscheinend brauche ich keinen Stift.

Aber wozu dann der Schreibblock? Ich überlege, erwäge einfach mal irgendeinen der Knöpfe zu drücken. Ich weiß aber nicht, was sie bewirken. Was, wenn ich etwas falsch mache? Ich bin eigentlich nicht der Typ Mensch, der einfach irgendwelche Knöpfe drückt. Um mich herum stehen alle regungslos, lächeln. Der Herr vor uns lächelt zurück. Vorsichtig drücke ich den obersten Knopf. „Wir sind noch nicht soweit“, flüstert mein Nebenmann. „Wie weit sind wir denn“, frage ich. Daraufhin lacht er. Es wird also bald beginnen.

Aber was? Was erwartet man von mir? Was, wenn ich etwas falsch mache? Ich gehe meine Taschen durch, sie sind leer. Ich versuche etwas in der Dunkelheit um uns herum zu erkennen. Die Scheinwerferkegel blenden zu stark. Weiter als bis zu den beiden Nebenpulten kann ich nicht sehen -und zu dem lächelnden Herrn vor mir. Dieser Schreibblock – was soll das? Soll ich etwas falten? Ich reiße einen der leeren Zettel ab und knicke ihn in der Mitte. Dann knicke ich ihn nochmal längs und wieder quer. Mein Nebenmann und ich schauen uns fragend an. Dann lacht er wieder. Ich verstecke mein Machwerk in der Hosentasche. Warum sind nirgendwo Kameras zu erkennen? Die Scheinwerfer blenden zu sehr, um sich sicher zu sein. „Entschuldigung, aber was“ – „Nanana, die Fragen hier stelle ich“, unterbricht mich der Herr lächelnd. „Was für Fragen?“, frage ich. Alle lachen. Das hier muss die Hölle sein.

Doch andererseits, was sollte ich auch im Paradies noch schreiben? Das stelle man sich einmal vor. Und für wen sollte ich dort schreiben? Worüber? Verdient das Paradies seinen Namen, wird man sicher etwas Besseres zu tun haben, als zu schreiben. Oder zu lesen. Warum soll man Augustinus lesen, wenn man mit ihm sprechen kann. Schreiben ist etwas ganz und gar unparadiesisches. Seit 12 Jahren liegt dieses Manuskript neben meinem Bett und wird zu keinem Buch. Wenn ich aufwache liegt mein Blick darauf, wie auf einem Stein. Die grauen Strähnen an meinen Schläfen, seit nun drei Jahren sind es Strähnen. Die kleinen Falten um meinen Mund – sechs Jahre. Und diese leeren Augen, ach wer weiß schon, wann die sich leerten. Mein Verfall hat begonnen, lange bevor ich ihn bemerkt habe. Katabolismus.

Ich gehe ein paar Schritte tiefer hinein und höre dieses Rauschen hinter dem Dickicht. Das sind nicht die sich im Wind wiegenden Bäume, das muss fließendes Wasser sein. Man riecht feuchte Erde und spürt den Nebel auf der Haut. Ich dränge mich durch das Buschwerk, biege die Äste beiseite und stehe am überwucherten Ufer. Tatsächlich, ein kräftiger Strom fließt zwischen den freigespülten Wurzeln hindurch, frisst sich in das Erdreich. Steine stemmen sich schäumend gegen die starke Strömung, werden langsam ausgeschwemmt, der Fluss schleift sie ins Tal hinunter. Blätter treiben schnell vorbei, loses Holz. Inmitten alldessen – der Fluten, der Steine, der Blätter und Bäume – steht eine Kuh, bauchtief im Wasser. Sonst niemand weit und breit.

Im Gegensatz zum vorangegangenen Quizshow-Traum ist dies ein reales Erlebnis gewesen, weder unmöglich noch unlogisch. Es ereignete sich innerhalb der Grenzen eines gesunden Menschenverstandes. Dennoch krankt das Bild an einem Mangel an Plausibilität, was aber der gesunde Menschenverstand des Öfteren tut – übrigens gerade in Bezug auf das weibliche Geschlecht. Frauen haben meist einen sehr gesunden Menschenverstand, deshalb ist in Bezug auf sie nichts unmöglich oder unlogisch, in beiderseitigem Einvernehmen. Schließlich ist das Gegenteil von gesund  nicht „falsch“, sondern ungesund. Der gesunde Menschenverstand nimmt gerne auch einmal Widersprüche in Kauf, um nicht an Wahrheiten kranken zu müssen. Pragmatismus.

Wie komme ich darauf? Weil ich plötzlich wieder an diese Kuh denken musste, in jener Situation, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle hatte. Bei ihr. Mit Frauen ist es ja oft so wie mit Kinderspielzeug, denn man beachtet Sie kaum, bis jemand anders anfängt, mit ihnen zu spielen – dann werden sie interessant. Ich weiß nicht, ob es an dieser Vorauslese liegt, oder purer Langeweile, jedenfalls sprang mir das Mädchen erst dann ins Auge, als ein anderer Mann begann, sich um sie zu bemühen. Nicht, dass ich mich im Anschluss selbst bemüht hätte. Das passt nicht zu mir. Und anschließend hatte ich diesen Traum von der Quizshow. Träume sind oft viel logischer, als die Realität. Ehrlicher und offener. Anders als die Esoteriker es einem weismachen wollen, geben sie einem selten große Rätsel auf. Man kennt die Lösung, die Intention – wie gesagt, anders als im Leben, wo man plötzlich vor der Situation steht, wie vor der Kuh im Fluss.

Und plötzlich stand sie vor meiner Tür. Ich hatte ganz ahnungslos auf ein Klingeln hin geöffnet, dachte es sei der Paketbote oder die GEZ, aber es war sie. Ich schaute ebenso verwirrt, wie damals am Flussufer. Sie sagte etwas. Ich nicht. Statt zu antworten, ging ich meine Taschen durch und tastete nach einem mehrfach gefalteten Stück Papier. Sie drängte sich an mir vorbei in meine Wohnung. Dann ging die Tür zu.

Ich weiß noch genau, dass bei uns zuhause die Bücher immer in Regalen standen, zwischen alten Fotos, kleinen Figuren und anderen Andenken. Das mag nun nicht sonderlich ungewöhnlich erscheinen, aber ich kann mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der eines dieser Bücher nicht im Regal gestanden hätte. Ich sah auch niemals jemanden Hand an sie legen. Sie wurden nicht gelesen, sondern entstaubt. Vielleicht liegt deshalb das Manuskript noch immer unangetastet neben meinem Kopfkissen. Wenn ich aufwache, fällt mein Blick darauf und bleibt liegen.

Sie dagegen ist völlig unwichtig für mein Leben. Das ist mir klar, ihr sicher auch. Im Grunde schlafen wir nicht einmal miteinander, denn über Nacht bleibt sie nie. Wir reden miteinander, vögeln einander und sehen manchmal zusammen fern. Ich streiche durch ihr Haar, sie drückt sich an mich, so nah, dass ich ihr Lachen bäuchlings fühlen kann. Wahrscheinlich ist es anders herum genauso. Oder auch nicht – vielleicht bin ich ihr nicht einmal sympathisch. Ich werde sie nicht danach fragen.

Da lag ein Stein, scharfkantig und regenfeucht. Es war fast dunkel, doch im entfernten Schein der Laternen war er gut zu sehen. Man muss nur Ausschau halten, dann findet sich immer ein Stein. Ich hob ihn auf, holte aus und warf ihn mit aller Kraft in das Schaufenster. Er platzte gegen die Scheibe, knallte wieder zurück auf das nasse Pflaster der Fußgängerzone. Das Glas zeigte ein paar Risse, mehr nicht. Ich hob den Stein wieder auf und schleuderte ihn gegen dieselbe Stelle. Nichts. Wuchtig trat ich gegen die Scheibe, wieder und wieder, bis sie krachend zersplitterte. Das Glas schnitt tiefe Furchen in meine Schuhe.

Wenn wir so daliegen betrachte ich manchmal meine Arme, meine Venen, die sich dunkel und verworren darauf abzeichnen. Das ist, als schaute man aus einem Flugzeug auf große Flüsse herab. Höhenkämme und tiefes Blau. Manchmal lausche ich Ihnen nach, presse die Handgelenke fest gegen meine Ohren und höre dem Rauschen des Blutes zu. Das beruhigt.

Ich mag es nicht, wenn in Texten viel geflucht wird, oder wenn sich jemand beim Schreiben derber Ausdrücke bedient. Das soll wahrscheinlich lebendig klingen, nahe an der gesprochenen Sprache. Aber warum soll ich etwas lesen, das sich nicht einmal im Stil von dem unterscheidet, was die Leute so erzählen. Und ach, was erzählen die Leute, wenn man sie lässt: Fast immer wenn jemand glaubt, viel erzählen zu müssen, liegt dies einzig und allein an seiner mangelnden Bereitschaft, selbst noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken, warum er es mitteilen zu müssen glaubt. Und selbst dann heißt es noch lange nicht, dass es sich lohnen würde, ihm auch zuzuhören oder gar ihn zu lesen. In ihrem, ich nenne es einmal Brief, fanden sich übrigens jede Menge Kraftausdrücke und eine Vielzahl von Flüchen.

Manchmal spielen wir ein Spiel. Wir stellen einander Fragen von denen man weiß, dass der andere die Antwort nicht kennt und du musst dann natürlich schätzen oder raten. Ich frage dich nach der Höhe von Bergen, nach dem Alter von Menschen oder der Bedeutung eines Begriffs. Doch du rätst wohl nicht gerne. Meist antwortest du nur: „Woher soll ich das wissen?“.

Der Polizist versteht meine Motive nicht, ich kann sie ihm auch nicht wirklich plausibel machen. Das Blut an meiner Hose scheint jedenfalls Beweis genug, meine Ausreden sind unerwünscht und werden ignoriert. Es ist in der Gesellschaft nun einmal so: Alle diejenigen, die sich in einer Autoritätsposition befinden, müssen davon ausgehen, dass sie zu Recht dorthin gelangt sind. Und dass sie gut daran tun. Sie haben nun einmal das Wort. Wir hier unten müssen dagegen glauben, dass wir zu Unrecht unten sind. Dem entsprechend antworten wir und deshalb fragt uns auch niemand mehr, wie auch wir niemanden fragen müssen. Ich verstehe seine Motive also vollkommen. Und nein, ich wurde nicht auf der Flucht erschossen.

Aber das wäre auch ein viel zu dramatisches Ende für mich. Im Beenden von Dingen lag niemals eine meiner Stärken. Ich habe mit ihr deshalb nicht Schluss gemacht, da ich melodramatische Szenen so gar nicht leiden kann. Warum sie nicht mehr gekommen ist, darüber kann ich trotz dieses Briefes nur mutmaßen. Wahrscheinlich braucht jeder etwas, an das er glauben oder worauf er zumindest hoffen kann. Und das bin ich – sicher nicht.

 

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