6. Schapp

An Martin musste schon wieder eine Frau vorüber gegangen sein. Jede neue schliff seinen Stil ab. Erst die karierten Hemden, dann der Flausenbart – irgendwann hörte man ihn plötzlich von Jogging sprechen. Nun also waren die langen Haare Geschichte und ein wirres Potpourri grober Locken wogte auf seinem Kopf hin und her. Damit sah er so aus, wie man sich einen Komponisten vorstellt und eigentlich stand ihm das ganz gut, aber Veränderungen waren meine Sache noch nie. Sein plötzliches Interesse an verbaler Unterhaltungen war damit jedenfalls erklärt. Dazu passte auch sein Vorschlag mal wieder „so richtig einen drauf zu machen, wie in alten Zeiten!“ Worauf er sich dabei jedoch bezog, konnte ich mir nicht genau erklären, schließlich war Martin niemals auch nur annähernd jemand gewesen, den man Draufgänger hätte nennen können. Er war schon immer eher ein Quatschkopf, in angenehmer Weise, eben kein Spinner – aber da hörte es auch auf. Nun hatte er mich jedenfalls eingeladen, zu einem Bier im „Schapp“.
Ich fragte mich schon lange wieso eigentlich jeder jüngere Wirt glaubte, Kneipen möglichst originell benennen zu müssen. Was soll man sich unter „Schapp“ vorstellen? Sicher nichts einladendes. Trotzdem kann man von einem Lokal mit diesem Namen erwarten, dass es alles andere als günstig ist. Und so war es auch, Holsten für 2,80 der drittel Liter. Aber es waren natürlich trotzdem genug Leute bereit zu bezahlen. Zum Beispiel solche Idioten wie der, der gerade mit einem breiten Grinsen vor mir stand.
„Na, ist doch amtlich, der Laden, oder?“
Ich kann mir meinen Gesichtsausdruck gut vorstellen, mit dem ich diesem Satz begegnete. Das sollte wohl ebenso unkonventionell klingen wie jener Kneipenname. „Amtlich“ war das Volk, das sich dort zwischen dem kastigen Sitzmobiliar hin und her bewegte, in gar keinem Fall. Ich nahm einen großen Schluck Bier. Zum Glück hatte ich wieder angefangen zu rauchen.
Während Martin mir mühsame Satzbrocken hinwarf, auf die ich noch bemühter wirkende Wortfetzen zur Antwort gab, wanderte sein Blick unablässig durch den Raum. Plötzlich verzerrte sich seine Mimik. Das ließ nichts Gutes vermuten. Angezogenen Mundwinkel, Augenzwinkern und Kieferbewegungen. Martin flirtete. Noch glaubte ich an die Möglichkeit zur Flucht, doch da schlurften auch schon zwei paar Chucks auf uns zu. Ich beugte mich über mein Glas und prüfte den Pegelstand. Als ich es ansetzte, sah ich durch den dicken Boden ein paar bleckende Zähne hinter großen Blutwülsten. Das war keine Spiegelung, man lächelte mich offenkundig an.
„Hey, studiert ihr beide nicht Politik?“
Da diese Frage aus jenem Munde wohl kaum so beleidigend gemeint war, wie ich sie empfand, reagierte ich mit einem verzweifelten Lächeln. Was für eine dreckige Stadt. Aber welchen ersten Satz hätte man auch sonst erwarten sollen? Etwa die Frage, ob man nur den Kubismus verdamme oder die gesamte entartete Kunst? Martins Antwort darauf wäre wahrscheinlich ebenso unspektakulär gewesen.
„Naja, nein, aber wir waren schon mal in einigen Seminaren… einfach so aus Interesse.“
Die Antwort darauf folgte äußerst zügig:
„Oh, echt?“
Wer hätte dafür auch lange überlegen müssen. Während Martin sofort dazu überging Namen auszutauschen, sah ich plötzlich, dass dort etwas versetzt hinter der eloquenten Politik-Studentin noch eine weitere stand. Ihre Augen blickten unruhig zwischen uns vieren hin und her. Wunderbar, dachte ich, eine eins zu eins Situation, passt ja mal wieder. Verzweifelt um einen Punkt zum Fixieren bemüht, trank ich schon zum zweiten Mal die letzten Schaumkrumen aus einem leeren Glas. Wie zu erwarten wurde man in diesem Laden nur auf Zurufen bedient, selbst wenn man am Tresen saß. Ich murmelte deshalb irgendetwas zu Martin, von wegen einer neuen Bestellung und wandte mich mit der einen Hand nach meinem Portemonnaie wühlend um, als plötzlich jemand quer durch meinen Schädel brüllte.
„Ey! Meister, wie wär’s mal mit vier Pils hier?!“
Nicht nur die Lautstärke verursachte einen starken körperlichen Schmerz. Ich machte kehrt. Die Beredsame stand nun an Martins Seite, der sie selbstzufrieden angrinste. Somit waren die Wahlverwandtschaften gebildet. Die Übrige stand vor mir, leicht bedröppelt. Wer lässt sich schon gerne den Rücken zudrehen.
„Naja, wenigstens zapfen die hier ordentlich.“
Der Satz taugte offenkundig nicht dazu, die Situation zu verbessern.
„Wenn auch nicht besonders schnell.“
Schweigen. Irgendwas lief hier offensichtlich falsch. Ich beschloss vorerst in ein sichereres Metier zu wechseln und mir eine Zigarette zu drehen.
„Hier ist Rauchverbot, schon seit über nem Jahr.“
Verdutzt blickte ich auf: Was für eine Erleichterung. Mein Gegenüber war in diesen Dingen also auch nicht bewandter als ich. Von meinem Tun brachte mich dieser Satz jedoch auch dann nicht ab, als der Kneipier ihn noch einmal wortwörtlich wiederholte. Kneipier … heutzutage ist unter diesen Tresenstehern die Meinung nicht unüblich, man könne ein Bier nicht in eins wegzapfen. Und von solchen ungelernten Hilfskellnern soll man sich dann auch noch erklären lassen, was nun der neueste chic sei.
„Naja, macht ja nichts. Drehen wird ja wohl noch erlaubt sein“
„Hoffentlich, sonst DREHT Siel noch ab!“
Dass die Eloquente über diesen faden Kommentar Martins samt Fingerzeig nicht nur lächelte, sondern lachte, war wohl als positives Zeichen zu deuten, wenn auch nur für ihn. Ich versuchte meinen genervten Blick einzig auf den Tabak zu bannen. Er war wohl das Einzige, nicht vollkommen geschmacklose hier. Ich musste ein paar Querstraßen weiter gehen, um nicht zwischen diese komischen Leute zu geraten, die wie gewöhnlich vor den Kneipen standen um zu rauchen. Die Webelstraße verlief quer zu einem kleinen Graben. Hier gab es etwas, dass eher eine Unterführung für das Wasser, denn eine Brücke war. Trotzdem konnte man sich bequem über die Brustwehr lehnen und über das Wasser hinweg rauchen. Einer der Vorteile dieser Stadt war der verhältnismäßig klare Himmel, der große Mond zwischen den weit ausholenden und niedrig bebauten Straßenzügen. Die Straßen wurden um diese Zeit kaum noch befahren. Allein ein paar Nachtbusse, die unter diesem Namen bereits um Acht Uhr abends über das Kopfsteinpflaster holperten, waren fernab zu hören. Ansonsten plätscherte das Wasser völlig ungestört.
Musik war der Lärm kaum mehr zu nennen, der immer lauter wurde, je weiter ich auf meinem Rückweg vorankam. Als ich den offensichtlich überflüssigen Türsteher des Schapps passiert hatte, bot sich mir im Innern ein zunächst erfreuliches Bild – Weder Martin noch die Politikerinnen waren zu sehen. Dennoch war das verwunderlich, war ich doch kaum eine Stunde weg gewesen und niemand hatte versucht, mich anzurufen. Ich setzte mich also wieder an die Theke und bestellte ein Bier. Als ich es nachfüllte und noch immer niemand zu sehen war, sprach mich der Chef de bar an, ob ich nicht mal nach meinem „Freund“ sehen wolle, der sei schon recht lange auf dem „Klo“ verschwunden.
Warum der Nasszellenbesucher, der mir quasi die Tür öffnete, so seltsam dreinschaute, wurde durch die inwändige Szenerie mehr als deutlich. In der hinteren Ecke des gleichsam schlecht belüfteten wie beleuchteten Raumes lag Martin vor einem Edelstahlklosett in einer großen Lache trüber Flüssigkeiten. Kleine Bläschen bildeten sich in diesem Gemisch aus Erbrochenem und Urin, während er immer wieder durch sie hindurch murmelte.
„Eise…eisekalt“
Martin erkannte mich erst, als ich ihm hoch half. Umständlich wischte er sich über den Mund und putze seine Hände an der nassen Hose ab,
„Ach… wo warste denn? Is ganz schön eisekalt geworden.“
„Ja, war nur eben eine rauchen, hinten beim Kanal.“
Wirklich interessieren konnte ihn das nicht.
„Ich hab Krebs… Lunge.“ Er spuckte irgendetwas festes aus.
„Hm…. scheiße. Naja, ich hab auch sowas in der Art.“
Martin grinste. Kein schöner Anblick.

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