1 Das eigenste Buch

Er war ein umgänglicher Mensch. Er las viel, nicht zuviel, aber doch gelegentlich, wie er sagte. Und er sprach gerne, leider meist mit sich selbst. Herr Siel, nicht gerade der Name eines Helden und damit sehr passend für ihn. Siel wohnte am Rande einer fast noch kleinen Stadt in einem noch kleineren Appartement. Dort saß er oft an seinem Fenster, sah der Sonne zu und den Menschen, die sich ihr aussetzten. Er selbst war blass. Wenn er doch einmal raus ging, so hastig und motorisiert.
Er besuchte dann meist eines der zahlreichen Antiquariate der Innenstadt. Geisterhäuser, wie er sie nannte. Dort war er niemals hastig; langsam schritt er durch die Reihen. Seine Bewegungen gravitätisch — den Objekten angemessen. Bücher, sein Blick suchte nach den verschlissenen, den abgegriffenen und ausgelesenen Exemplaren. Gerade auf jene, die beinahe schon aussortiert worden waren, hatte er es abgesehen. Klassiker meist, oder Romane zum Spottpreis. Obwohl ihn keine finanziellen Motive bewegten, er kaufte sie. Anschließend packte man sie ihm vorsichtig ein und so nahm er sie mit nach Haus.
Sein Apartment war alles andere als groß, aber bot doch Platz für eine Vielzahl von Regalen. Jeder Meter Wand gab dutzenden Brettern und Schränkchen halt. Es war ein beeindruckendes Bild, denn vom Eingang aus sah man nur Bücher. Er hatte den Raum durch mehrere Regalreihen geteilt und um zum Fenster zu gelangen, musste man erst sämtliche Buchmeter durchwandern.
Das Bett, der Kleiderschrank – alles bis auf die Kochzeile hatte weichen müssen. Seine Kleider lagen in einem kleinen Pappkarton am Fuße eines der Regale, in dessen Pfosten und in der gegenüberliegenden Wand er jeweils schwere Haken befestigt hatte. Wenn er müde wurde spannte er seine Hängematte auf und schlief wohlbewacht schwebend zwischen seinen Gefährten. Dabei lag meist eines der Bücher auf seiner Brust.
Doch an Schlaf konnte er nun nicht denken. Nervös nahm er die soeben erstandenen Werke aus seiner Tasche: Die Kritik der reinen Vernunft, Schillers Räuber und zu guter letzt ein Jugendbuch aus den 70ern. Er blätterte noch einmal kurz durch alle drei. In der Kritik waren, wie üblich, hauptsächlich Unterstreichungen, hier und da ein paar Randnotizen oder ein Verweis. Die Räuber hatte jemand ebenfalls eher lieblos kommentiert, Ausrufezeichen waren das Höchstmaß an Empathie hier, doch eine Notiz im Buchdeckel hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Eine persönliche Widmung – offensichtlich war dies ein Geburtstagsgeschenk gewesen. Die Kritik stellte er zu den anderen Exemplaren, die Räuber ebenfalls zu ihresgleichen, das Jugendbuch aber hatte noch keinen ähnlichen Vertreter. Mit ihm setzte er sich ans Fenster. Normalerweise interessierte er sich nicht so sehr für die Jugend.
Wie zu erwarten war, versprach der Klappentext eine völlig banale Geschichte. Solche Bücher trugen meist nur wenig individuelles Leben mit sich, wurden nach einmaligem Lesen und etwas Lagerzeit verschenkt, verscherbelt, weggeworfen. Nicht selten hatten sie jahrelang als einsame Vertreter ihrer Art in Kinderstuben oder Jugendzimmern gestanden. Als Zeichen guten Willens zu Geburtstag oder Firmung erhalten, mussten sie dort eine gewisse Zeit stehen bleiben, bis Staub auf die Sache gefallen war. Manchmal dienten sie weiterhin als Alibi, als Betrachtexemplare – ein kleiner Bücherzoo um nicht für lesefaul gehalten zu werden. Das sah man ihnen dann auch an. Außen grau, jedoch mit starren, altjungferlichen Seiten. Unberührt und unbeschrieben, nur von Maschinen beachtet worden, verblühten sie ohne dass sie jemand je betrachtet hätte.
Doch dieses hier war offensichtlich anders. Der Einband zeigte deutlich Tragespuren. Jemand musste es in seiner Tasche oft mit sich herum getragen haben. Auch hatte man auf dem Deckel herumgemalt. Was genau, das war nicht mehr erkennbar. Siel schlug das Buch auf.
Die angegilbten Seiten hatten geatmet. Auf den ersten Blick sah er Marginalien an beiden Seiten neben den Text geschrieben, ja sogar über und unter ihn. Sie waren teilweise ganz sorgfältig, manchmal jedoch in aller Eile hingekrakelt, brachen ab. Hier und dort war unterstrichen worden. Etwas hatte er bei diesem Genre jedoch genau so auch erwartet: Die Schrift ließ auf eine Frau schließen. Auf ein Mädchen vielleicht.

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1 Antwort zu 1 Das eigenste Buch

  1. heute abend sagt:

    Herr Siel…Kafka.

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