Herr Siel begann so manchen Tag mit ein und derselben Frage. „Wer macht, zur Hölle, diesen Krach?“ Die Antwort darauf lag meist sehr nahe und aus seiner Hängematte mit wenigen Verrenkungen zu erreichen. Deshalb begann er den Tag oft viele Male, denn den nervenden Alarm seines Weckers pflegte Siel nicht zu deaktivieren. Er drehte ihn immer nur ein paar Minuten weiter, um noch ein wenig Ruhe zu finden vor dem Tag, der schon so früh und ohne Rücksicht vor ihm aufgestanden war. Es konnten auf diese Weise, ganz zum Ärger seiner Nachbarn, Stunden vergehen.
Irgendwann musste er dann doch aufstehen, schon allein der Kopfschmerztablette wegen, die er einzunehmen hatte. Nach seinem langen Kampf gegen die Uhr fand er meist schon eines jener „Bücher“ in der Post, bei denen man von ihm erwartete, dass er sie auch lesen werde. Dabei konnte man diese Papppakete im Grunde nur dort lesen, wo sie allem Anschein nach geschrieben worden waren „Scheißhausliteratur“ nannte Siel dieses Final der modernen Kultur. Man machte es ihm von Woche zu Woche einfacher, arrogant zu sein. Irgendjemand hatte einmal gesagt, kein Gedanke komme über seine Zeit hinaus. Namen nahm Siel schon lange nicht mehr so genau, über den Gedanken aber kam die Zeit sicherlich nicht hinaus.
Die Wochen vergingen und Monate. Für Siel war Zeit längst zu einem seltsamen Begriff geworden, der ihm nicht mehr wirklich etwas sagte. Oft dachte er noch an den Roman, an die Frau, die er aus ihm heraus las. Einige Male noch durchsuchte er das gleiche Antiquariat um nachzusehen, ob vielleicht noch etwas anders von ihr zu finden sei. Er fand nichts. Die Hoffnung gab er nicht auf, die Ahnung, sie könnte ihm jeden Tag unbewusst über den Weg laufen. Sie lief nicht, denn längst war sie tot. Aber spielte das wirklich eine Rolle? Nicht für Siel, der mit den Lebenden, Redenden allzu wenig anzufangen wusste. Das war wohl einer der Gründe, die später zu seinem Suizid führen sollten. Zu dieser Zeit aber darauf angesprochen, hätte er es vehement bestritten. Wohl aus gutem Grund.
Siel wachte auf. Der Wecker würde jeden Moment klingeln. So stellte er seine Füße auf den kalten Boden und tastete sich im Dunkeln zur Fensterbank vor, auf der er gestern Nacht den Wecker vor sich selbst versteckt hatte. Er nahm ihn, legte sich zurück in seine Hängematte und stellte ihn neben sich aufs Bücherregal. Er schlief wieder ein. Siel wachte auf. Der Wecker klingelt. Er drückte die Taste für die fünfminütige Weckverzögerung und drehte sich herum, so gut es ging. Es klingelte. Siel drückte die Taste und schlief wieder ein bis es erneut klingelte. Im Halbschlaf schlug er nach der Taste um zurück zu seinen Träumen finden zu können. An jenem Tag trieb er das Spielchen so weit, bis es schließlich gar nicht mehr klingelte. Das war dennoch kein Triumph. Siel hatte verschlafen und fühlte sich dementsprechend.
Früher hatte er mal einen Computer gehabt und Menschen elektronisch einen guten Morgen gesagt, da war es seltener vorgekommen, dass er sich so hatte gehen lassen. Nun jedoch gab es wenig gute Gründe, die Morgenstunden und ihre Tätigkeiten nicht einfach zu verschlafen. Siel schluckte eine Kopfschmerztablette, zog sich etwas über und ging nach der Post sehen. Auf dem Weg zum Briefkasten traf er einen dieser Menschen, die im selben Haus wohnten. Ob der ihm nun wegen seiner, am frühen Nachmittag unpassend schluderigen Morgenkleidung einen derart grimmigen Blick zuwarf, wurde Siel nicht ganz klar.
Irgendwann klingelte es an der Tür. Siel horchte auf. Es klingelte tatsächlich an der Tür. Etwas verunsichert betätigte er die Sprechanlage.
„Ja bitte?“
„Kerle, Kerle, Kerle!“
„….“
„Na machst du jetzt mal die Tür auf, oder was? Ich bin’s! Jaja, du magst keinen spontanen Besuch, aber…“
Der Türöffner brummte. Siel schlug sich Wasser ins Gesicht und suchte nach einem Kamm. Er nahm irgendein zerknülltes Hemd aus dem Pappkarton. Ihm stach jedoch recht schnell ins Auge, dass er noch immer Jogginghosen trug. Er seufzte und warf das Hemd zurück in den Karton. Es klopfte an der Tür. „Moment…“
Siel blickte sich um, sah aber in der Unordnung nichts, was nun für Martin besonders unzumutbar sein konnte. Die Tür öffnete sich mit einem unüberhörbaren Knarren.
„Tach“
„Tach!“
Da stand er nun also, lächelte und hielt eine Leinentasche in der Hand, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Dabei war es das eben nicht. Was wollte er überhaupt hier? Was war es eigentlich für eine Art, um diese Zeit – gut, es war bereits nach drei Uhr – aber dennoch, was war es eigentlich für eine Art, hier völlig unangemeldet anzuschellen? Noch dazu mit einem Leinenbeutel in der Hand und dämlich grinsend; als habe er, Siel, nichts Besseres zu tun, als hier an der Türe herum zu stehen und sich angrinsen zu lassen.
„Man siehst du verpeilt aus. Stehen wir hier noch lange so rum oder darf ich vielleicht rein kommen?“
Siel ging ein paar Schritte zurück.
„Setz dich, nimm dir nen Keks.“
Irgendwie freute er sich ja, Martin zu sehen. Diesem fiel auf, dass Siel wieder einmal vergessen hatte die Vorhänge aufzuziehen.
„Gemütlich hast du’s hier.“
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