Am 9.Juni 2004 stellt ein etwa 30jähriger Mann vor einem Friseursalon in der Mülheimer Keupstraße sein Aldi-Rad ab. Auf dem Gepäckträger ist ein Hartschalenkoffer fest montiert. Auf seinem Weg in die Keupstraße zeichnet den Mann eine Überwachungskamera des Fernsehsenders Viva auf, der sich direkt um die Ecke befindet. Kurze Zeit später explodiert eine mit Tischlernägeln gespickte Bombe, die eine solche Wucht entwickelt, dass die Nägel parkende Autos durchschlagen, den Friseursalon völlig zerstören und in Brand setzen. 22 Menschen werden davon getroffen, 4 davon schwer verletzt. An diesem Tag stirbt niemand. Es war anders geplant.
Die Bombe, bestehend aus einer kleinen Gasflasche, mit Schwarzpulver und einer Glühlampe versehen, wird durch eine Modellbaufernbedienung gezündet. Sie ist der sichtbare Höhepunkt einer Mordserie an mindestens 10 Menschen, die als „Heimatschutz“ begann. Schon am Folgetag werden Landes- und Bundesinnenminister einen fremdenfeindlichen Hintergrund als pure Spekulation abtun. Das Motiv liegt ihrer Ansicht nach höchstwahrscheinlich im mafiösen Umfeld begründet. In der Keupstraße wohnen und arbeiten schließlich großteilig Ausländer. Terrorismus wird auch für möglich gehalten, islamistischer Terrorismus. Seit Ende 2003, als die Amerikaner ihre Invasion des Iraks abgeschlossen haben, sind Selbstmordanschläge und Autobomben jeden Tag in den Medien. Ein Bundespräsident wird sich für diese Einschätzungen später einmal entschuldigen. Deutschland wird sich fragen, wie man so blind sein konnte. Und dann zum Normalfall übergehen.
Am 4. November 2011 begehen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihren mittlerweile 14. Banküberfall, um die Mordmaschinerie und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Doch diesmal geht etwas schief, ein Passant beobachtet die beiden, als sie die zur Flucht genutzten Fahrräder in ihren gemieteten Wohnwagen quetschen. Er informiert die Polizei, die nun erstmals nach einem Wohnwagen fahndet. Als sie diesen kurze Zeit später aufspürt und sich die Beamten zum Zugriff nähern, hören sie einen Knall und gehen in Deckung. Es folgt noch ein Knall. Plötzlich beginnt der Wohnwagen zu brennen. Mundlos und Böhnhardt sind tot. Es sind zwei von fast zwei Dutzend Personen, die mittlerweile zum Kreis der NSU gezählt werden. Und es sind zwei der drei Haupttäter, die ein Jahrzehnt lang immer wieder kaltblütig Menschen aus nächster Nähe mit Pistolenschüssen hinrichteten.
Am 11.November 2011 liegt bei den Verfassungsschutzbehörden der Länder eine Anfrage der Bundesanwaltschaft vor, Akten zu den identifizierten Tätern zusammenzutragen und sie den Ermittlern zur Aufklärung der Zusammenhänge um den nunmehr bekannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ zu übermitteln. Im ausgebrannten Wohnwagen wurden mittlerweile die Tatwaffen der Morde sowie Bekenner-DVDs gefunden – man ahnt das Ausmaß der Verbrechen. Die Medien berichten. Und die Beamten tun, was ihnen aufgetragen wurde, sie sichten alle Akten, die der Verfassungsschutz über die betreffenden Personen aus dem Umfeld der NSU gesammelt hat – und das sind einige. Die Täter sind dem Verfassungsschutz alles andere als unbekannt. Sie wurden wohl auch im Rahmen der geheimen „Operation Rennsteig“ auffällig, eine Überwachungsaktion, die der rechten Szene in Thüringen galt, in der die Täter Unterstützer fanden und wo sie untertauchen konnten.
Plötzlich geschieht etwas Seltsames. Mindestens ein Beamter wirft den Reißwolf an, löscht mehrere Akten nach nochmaliger Durchsicht. Angeblich aufgrund von Ablauffristen. Andere, ebenfalls von diesem Umstand betroffene Akten, werden nicht vernichtet. Es wird ein halbes Jahr dauern, bis dieser Umstand der Öffentlichkeit bekannt wird. Inzwischen gibt es den Verdacht, die Täter könnten vom Verfassungsschutz finanzielle Zuwendungen erhalten haben, als V-Männer angestellt gewesen sein, um eine Szene zu überwachen, deren extremste Mitglieder sie waren. Akten, genau solche Überwachungsaktionen betreffend, wurden am 11. November, eine Woche nach dem Fund von Mundlos und Böhnhardt, vernichtet. Beate Zschäpe, die dritte Haupttäterin, saß da schon im Gefängnis und verweigert bis heute jegliche Aussage.
Mittlerweile befasst sich mit all dem ein Untersuchungsausschuss, dessen Mitglieder fraktionsübergreifend von skandalösen Vorgängen im Verfassungsschutz sprechen. Verschwörungstheorien könne man so nur schwer mit Fakten begegnen, hört man da. Einige hochrangige Minister mussten ihren Hut nehmen. Vor einigen Tagen nahm noch einmal Innenminister Hans-Peter Friedrich zu den Vermutungen Stellung, ob die NSU-Mitglieder nicht doch V-Leute gewesen seien und Geld vom Verfassungsschutz erhalten hätten, während dieser ihrem Treiben mehr oder minder tatenlos zugesehen hätte. Friedrich hielt das für wenig wahrscheinlich. Aus den nun vorliegenden Akten gehe so etwas nicht hervor. Und der Beamte aus dem Verfassungsschutz? Der schweige, werde sich aber verantworten müssen. Das sei schließlich der Normalfall.