3 Siel?

Es war schon wieder Hell. Siel hatte nicht sehr viel geschlafen und saß in einem amtlichen Warteflur. An manchen dieser Tage machte er sich vor, seine Isolation beruhe auf den eigenen Fähigkeiten, welche ihm die Banalität des Alltags zur Unerträglichkeit werden ließen. An anderen Tagen erkannte er dagegen seine starre Unfähigkeit gegenüber den banalsten Anforderungen des Alltags. Gerade das führte ihm die Wohnraumverwaltung wieder einmal vor Augen.
Siel kam sich vor wie Herr K. Eine unglaubliche Zeit schon wartete er hier, ohne eigentlich genau zu wissen wozu. Schließlich wird man von so einer seltsamen Dame abgefertigt, die einen dreimal mit falschem Namen anspricht und dabei nicht ein einziges Mal aufblickt. Aber von Gryphius lernen heißt lächeln lernen. Kaum ein Leben, das dem Sinnentleerten und der Nichtigkeit größere Bedeutung zumisst, als die verblendete Existenz einer verbeamteten Bürokraft. Auch ihr böses Erwachen wird noch kommen, Frau Majewski! (P – Z) So dachte Siel.
„Siel?“.
Oh nein, da hatte jemand doch eben seinen Namen gerufen. Er beschleunigte seine Schritte, der Türgriff war fast schon greifbar.
„Heda, Siel! Bist du nun auch noch taub?“.
Er drehte sich um und versuchte zu lächeln.
„Ach… hallo! Ähm .. na?“.
Es hatte ja mal eine Zeit gegeben, da er gerne Leute unvermittelt traf – auf einer Straße etwa, oder der Treppe hinauf zu den Seminarräumen. Damals hatte er sich aber auch noch regelmäßig rasiert und vorm Verlassen seiner Wohnung in den Spiegel geschaut.
„Du hast es mal wieder eilig, wie? Sicher schwer zu tun, oder … was machst du eigentlich hier? Warst du bei der Wohnraumverwaltung? Ich dachte…“.
Jetzt musste Siel sich bei jedem dieser Treffen erst einmal in Erinnerung rufen, wie er wohl gerade aussah. Wann hatte er sich das letzt mal rasiert, gekämmt? Die vergangenen 3 Tage waren etwas hektisch gewesen. Geduscht hatte gestern noch, nein, sogar heute. Ganz so schlimm konnte es also nicht sein.
„… du seist da längst ausgezogen. Naja, ist ja auch gar nicht so wichtig. Wo willst du denn jetzt eigentlich hin?“.
Er mochte diesen Menschen doch eigentlich, jedenfalls war er sich da recht sicher. Dennoch war ihm die ganze Situation unangenehm. Auch war die Lautstärke dem Sachverhalt gar nicht angemessen. Lautes Rufen sollte in der Öffentlichkeit die Ausnahme für den Notfall sein, doch hatte die Werbung dies wohl irgendwann pervertiert und bis zum Marktschreiertum verkommen lassen. Mittlerweile erschien es vielen Menschen ganz normal, sich auf offener Straße über große Entfernungen anzubrüllen. Siel fragte sich dennoch, wie man es sich einfach heraus nehmen konnte, einem Menschen hinterher zu rufen, der offensichtlich auf dem Weg zu etwas sehr Wichtigem war. Nicht dass er sich in Hinblick auf sein Tun überhaupt etwas sehr Wichtiges vorzustellen im Stande war, aber das sah man ihm nicht an. Im Gegenteil, er hatte es sich extra antrainiert, durch festen Schritt und eine entschiedene Miene derlei Fragen aus dem Weg zu gehen.
„Nach Haus.“
„Nach Haus? Da warst du doch heute schon!“
„Das tut nichts zur …“
Siel hielt inne. Es hatte gar keinen Zweck, Martin gegenüber irgendeine Ausflucht zu suchen. Dieser blickte ihn schon wieder so seltsam an, mit einer Mischung aus Erwartung, Sorge und Unternehmungslust. Sorge? Das war neu. Das gefiel ihm nicht, denn die Sorge war der größte Wegbereiter der Belästigung. Dagegen musste er etwas tun, so dachte Siel.
„Ach was solls, Bezahlbar?“.
Auf diesen Vorschlag grinste Martin ein „so gefällt mir das“ zur Antwort,
„Es ist ja auch schon halb drei durch, ich hoffe du hast mittlerweile gefrühstückt.“
Nun saßen sie also in der Bezahlbar. Siel war sich immer noch nicht sicher, ob sein Bart älter als die Wochenkarte war, doch die Kellnerin hatte sie beide vorhin angelächelt – das war ein gutes Zeichen. Siel war einmal ein Kneipengänger gewesen, dementsprechend viel es ihm verhältnismäßig leicht, sich in diesem Medium zu bewegen. Er war inzwischen etwas aus der Übung gekommen und auch die Bezahlbar wirkte sehr viel konzipierter auf ihn, als ihm das von dieser Art Kneipe in Erinnerung war. Er sah sich aber nicht weiter um, sondern blätterte nach alter Gewohnheit zuerst einmal durch den Speisezettel. Drei Biersorten hatten sie hier, immerhin. Dazu den üblichen Rest: Alt, Weizen und eine Breite Palette an Mischgetränken. „Mann blaut nicht!“, sprach er vor sich hin.
„Man blaut… ist das Benn?“
„Nein, das hab ich gestern in so einem Roman gelesen.“
Martin schaute verwundert.
„Soso, du liest nun also plötzlich Romane!“
„Ich lese keinen Roman, ich lese in einem Roman, das ist ein U“
Siel bemerkte die Kellnerin, welche wohl schon seit einiger Zeit still neben ihrem Tisch stand und unter farbenfreudigen Strähnchen erwartungsfroh auf die zwei Neuankömmlinge blickte. Sie orderten zwei große Pils. „DAS ist Benn“, dachte Siel und dabei fragte er sich, ob sich die Dienstpflichten einer Kellnerin vielleicht merklich reduziert hatten. Den Gast zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen, gehörte scheinbar nicht mehr dazu. Dies unterstrich die Kellnerin mit einem wortlosen Nicken um daraufhin zurück in die Tiefe des Raumes zu trippeln. Dabei gab sie den Blick auf zwei junge Studentinnen in der Ecke preis, die irgendetwas aus hohen Gläsern tranken. Sicher ein alkoholfreier Cocktail, dachte Siel, mit Zucker, Sahne oder dergleichen. Er pflegte Menschen oft danach abzuurteilen, welche Stoffe sie ihrem Körper öffentlich zuführten oder enthielten. Seiner Meinung nach sagte dies weit mehr über eine Person, über eine Gesellschaft aus, als Demonstrationen oder Wahlen es vermochten.
Das Eintreffen des Bieres stoppte Siels Gedanken. Martin erwartete, und das war sicher nicht ganz illegitim, dass man ihn beim Anstoßen auch ansah. So genau wusste Siel immer noch nicht, was er denn nun überhaupt mit ihm reden sollte. Aber da war ein Bier, der Rest würde sich schon ergeben. Und im Übrigen, „Mann blaut nicht!“, dachte er.

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