Am Ende

Wenn das Ende kommt, wirst du nicht damit rechnen. Es überrascht, muss überraschen. Was zu Ende geht, weiß nichts davon, selbst wenn es lange schon damit gerechnet hat. Enden ist unbewusst.
Mir war jedenfalls klar, dass es passieren würde, nur nicht wann. Als ich die Zeitung heut Mittag aufschlug, wusste ich Bescheid. Das ist es. Ich sagte alles ab, hinterließ eine Nachricht, die letzte, und loggte mich aus. Ich fuhr zum Bahnhof, hob unterwegs so viel Geld ab, wie mir möglich war. Erstaunlicherweise schien ich der Einzige zu sein, dem diese Idee gekommen war. Die Straßen waren voll, die Banken leer. In der Stadt bot sich ein seltsames Bild: Alles war wie gewohnt. Die Busse fuhren, die Restaurants waren geöffnet, wurden besucht und die Besucher bedient. Ich musste schon etwas lächeln, denn ich würde sie vermissen, die Gesellschaft. Eigentlich war es mir hier ja sehr gut gegangen. Sogar einen Bauchansatz habe ich mir erarbeitet. Was nützt es aber, Vergangenem nachzutrauern?
Ich setzte meinen Weg fort und ging an all den Menschen vorbei, die sich ganz wie gewohnt durch die Fußgängerzone bewegten – den Blick schweifen lassend, aber nach Möglichkeit jeden Augenkontakt mit den Pennern vermeidend. Taschen in den Händen, Handys in den Taschen, manche mit Kaffee, andere ohne. Jeder wie er wollte. Eine Zeitung las hier niemand.
Am Bahnhof angekommen, bot sich mir ein anderes Bild. Nicht nur ich allein hatte die Sachlage verstanden, auch andere wollten weg. Lange Warteschlangen vor den Automaten, der Dittsch war völlig leergekauft und im Reiseinformationszentrum kein Fußbreit Platz. Es glich einer Belagerung. Zum Glück hatte ich kein Gepäck dabei, wozu auch? So konnte ich mir jedenfalls leichter den Weg durch die Menge bahnen. Ich kaufte mir kein Ticket. Würde ich heute nicht schwarzfahren, käme ich wohl nie mehr dazu. Es war ja auch nicht so, als gäbe es Konsequenzen zu fürchten. Der Zug war zwar voll, aber nicht so voll, wie man es erwartet hätte. Wahrscheinlich standen die meisten Reisenden einfach ratlos vor den Bahnomaten, unsicher, wohin ihre wohl letzte Fahrt sie nun bringen sollte. Das würde auch die langen Schlangen, den aber durchaus noch gesitteten Umgang miteinander erklärt haben. Panik sah anders aus, diese Flucht war eine zutiefst melancholische. Man wollte weg, wusste aber eigentlich gar nicht, wohin. Welches Ziel sollte einen auch retten, die Lösung oder auch nur Linderung sein?
Darauf wusste auch ich keine Antwort. Stattdessen betrachtete ich die Frau vor mir, stellte mir vor, wie es sein müsste, ihre Brustwarzen zwischen meinen Fingerspitzen hin und her zu rollen, auch andere Stellen ihres Körpers auf deren Haptik hin zu untersuchen. Sie lächelte mich freundlich an und ich ließ meinen Blick aus dem Fenster fallen. Regrets – I had a few. Wir sind noch gar nicht heraus aus der Stadt. Es ziehen Bürokomplexe und Industrieruinen an uns vorbei. Aus manchen Schornsteinen quillt noch schwarzer Rauch. Angerußte Backsteinbauten, Schienen in den Straßen und Menschen, die sie überqueren. Hier ist es wie am Anfang. Hier funktioniert es noch. Ich denke an das viele Geld, das ich bei mir trage. Warum habe ich es überhaupt mitgenommen? Glücklicherweise gibt es heutzutage selbst in fahrenden Zügen Kaffeeautomaten. Ich weiß, ich werde Kaffee trinken.

Dieser Beitrag wurde unter Autolyse, nun zu etwas ganz anderem ... abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

2 Antworten zu Am Ende

  1. Blutgräfin sagt:

    Wie tief melancholisch. Es weckt irgendwo den Wunsch, es dem Erzähler gleich zu tun. Wenn das beabsichtigt war, ist es gelungen…

  2. gonzosoph sagt:

    Dann nehme ich das mal als Lob und bedanke mich artig. Freue mich immer, zu gefallen … naja, oft.

Schreibe einen Kommentar zu Blutgräfin Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.