So stellt sich die Gesellschaft dann heute auch dar: Alles Sein ist zu Potenz transformiert, zum Willen. Alles Werden ist Verschlingung und alles was nicht tot ist muss verschlingen, muss wollen. Dies unter dem Deckmantel einer suggestiven Moral, die das Grundmuster dieses Willens nicht mehr leugnet sondern geschmackvoll kleidet. So wird aus Verschlingung Selbstverwirklichung, Existenzkampf wird zum gesunden Wettbewerb, Vereinzelung heißt nun Emanzipation.
Diese Weltsicht folgt der „neuen Moral“ Nietzsches und hüllt sie in das Ideal des Fortschrittsglaubens und das Vokabular der neuen Medien. Niemand bestreitet mehr die hilflose Verlorenheit und den Zwang zum Raubtierverhalten des Individuums. Dies alles ist schließlich überliefert, institutionalisiert und beglaubigt — nicht erst seit Castingshows. Man geht gemeinhin davon aus, dass man sich diesem gesellschaftlichen Zwang zum Gegeneinander nicht entziehen kann. So entfremdet sind wir, dass wir die künstlichsten aller Gesellschaftsprodukte nicht mehr als von Menschen geschaffen erkennen. Dabei sind es oft gerade die Menschen, die sich auf die Unabänderlichkeit der Gesellschaft berufen („ja was hätte ich denn machen sollen?“), die sie als Funktionsträger zu dem machen, was sie ist. Kultur als Entäußerung betrachtet verdeutlicht hier ihre Ironie: Die Herrschaft der Maschinerie über ihren Erbauer, der sich nicht mehr als solcher begreift.
Wettbewerbsdenken gilt als absolut, unsere heutige Gesellschaft mit ihm. So geben wir uns dem hin, was als kruder Dingzwang erscheint, gekleidet in spielerische Konventionen und federne Maßregeln. Das Individuum habe sich zu beugen, sich anzupassen und es müsse für den globalen Kampf gegen seine Zeitgenossen bereitet werden, spätestens wenn es die Zahlen bis 100 aufsagen kann. Dass dabei gewisse persönliche Überzeugungen korrigiert werden, Vorstellung über das Mit- und Füreinander scheitern müssen, ist vorprogrammiert. Es kann kein richtiges Leben im Falschen geben. Wo es aber kein „richtig“ mehr gibt, scheint es jenseits der groben verstöße auch kein „falsch“ mehr zu geben. Wie oben gezeigt, hört jeder Anspruch der Verantwortlichkeit für andere und vor sich selbst auf, normativ zu sein.
Was ist das für ein entmenschlichtes Spiel, dessen Regeln wir Menschen uns als absolut gesetzt haben? Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder, der die Implikationen dieser Spielregeln einmal im gesamten bedenkt und mit seinen innersten Wünschen vergleicht nicht zu Deckungsgleichheit kommen kann. Der Mensch ist kein allfressendes Raubtier.
Also muss dieses Spiel aufhören.
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