Es kommen Zeiten, in denen der Mensch Dinge in Frage stellt, derer er sich doch Zeit seines Lebens sicher war. Diese Selbstschau ist wohl die wünschenswerteste Folge dessen, was man Krise nennt: Kritik nämlich. Es hat nun einiges gebraucht, grundlegende Kritik an Wirtschaft und Gesellschaft zurück in den redaktionellen Teil seriöser Zeitungen zu bringen. Wo jahrelang nur noch über etwaige Stil- und Verfahrensfehler diskutiert wurde, stellt man jetzt grundsätzlichere Fragen. Wollen wir so weiter machen? Können wir auch anders?
Das grundsätzliche „Nein!“ verliert immer mehr an Glaubwürdigkeit, wo in kürzester Zeit über weiteste politische wie geographische Grenzen hinweg ein Finanzsystem zu retten versucht wurde, obgleich man in jüngerer Zeit jegliche Einflussmöglichkeit auf selbiges wo nicht für unerwünscht, da für unmöglich gehalten hatte. Nun also doch? Man kann es zumindest versuchen.
Man kann versuchen, den vorherigen Zustand zu erhalten, in dem man ihn den neuen Herausforderungen anpasst. Diese Vermittlung nennt man Reformpolitik. Einfach zu bewerkstelligen ist diese nicht. Noch dazu in einer Gesellschaft, deren Meinung von und Interesse für Politik derart gering ist. Wie soll man einer Bevölkerung vermitteln, dass sich Dinge ändern müssen, wenn selbst deren junge, kluge Köpfe nichts anderes mehr wollen, als einen Job? Und ihr Job sei es eben nicht, Verhältnisse zielgerichtet zu verändern. Recht haben sie damit. Das ist kein Job, es ist eine Berufung.
Aristoteles war Aristokrat. Bloßen Handwerkern sprach er die Eignung zur Politik ab, da sie ihr Tagwerk für derartige Belange zu sehr in Anspruch nähme. Sein Lehrer Platon war noch weiter gegangen. Er hatte den Berufspolitikern die Eignung zur Politik abgesprochen, denn diese würden Politik als einen Job betreiben. Sie seien Banausen, bloße Handwerker. Es bedürfe mehr, das Wohl des Staates zu befördern, als ein gewisses handwerkliches Können in Verwaltungsfragen, verquickt mit einem Sinn für Populismus.
Dass Politik im wahrsten Sinne begeistert sein kann und begeisternd, scheint heute Großteilen der Bevölkerung fremd und allein die Vorstellung dessen eher bedrohlich. Was wir von unseren Politikern erwarten ist nichts weiter, als dass sie ihren Job machen. Detailfragen sind uns dabei gemeinhin egal, sofern es nur gut ausschaut. Vor allem für uns persönlich, ganz pragmatisch gesehen. Jegliche Richtungsdiskussion ist unerwünscht. Nachhaltige, gesamtgesellschaftlich ausgerichtete Reformpolitik muss dann unbequem, deshalb unpolpulär sein. Doch wird Gesellschaft so dauerhaft funktionieren? Man kann niemandem Visions- und Phantasielosigkeit vorwerfen, dem man genau das abverlangt. Verstehen sie mich nicht falsch – weder fordere ich, die Politik zu reromantisieren noch deren Professionalisierung rückgängig zu machen. Dennoch glaube ich, dass Politik mehr ist, als bloßes Staatsingeneurwesen und die viel gelobte neue Nüchternheit. Und man wird Krisen wie jene dieser Tage mit einer Feuerwehrpolitik nicht bewältigen, geschweige denn verhindern können. Wo nicht Visionen, braucht es doch zumindest Vorstellungskraft, ganz pragmatisch gesehen.
Wir können doch auch anders. Wir können plötzlich darüber nachdenken, Banken globalen Regelwerken zu unterwerfen. Dabei war global schon ein Synonym geworden für die vermeintlich einzige Regel – die des Marktes. Sie schien gleichzeitig Ursprung und Ziel aller politischen Entwicklungen der Moderne zu sein. Der Motor von Entwicklung und Fortschritt und deshalb Garant der Freiheit und Demokratie. Jeder Versuch, diese Maschinerie unter Kontrolle zu bekommen, erschien als Anachronismus aus Zeiten der großen ideologischen Systeme. Nicht nur in Amerika galten Vertreter eines „starken Staates“ als verdächtig sozialistisch.
Nun aber geht Manchem wieder auf, dass auch die Regeln des Marktes ein Regelwerk sind. Milliardenfach geschaffen, jeden Tag, von Menschen, die nichts weiter tun, als ihren Job – ob mit Keyboard, Sichel oder bloßen Händen. Wie der Gesellschaftsvertrag eine Idee, ist die Marktwirtschaft ein Konstrukt und nicht ohne Baumeister. Politik, Wirtschaftsunternehmen und jeder einzelne Mensch, der an diesem Prozess beteiligt ist, drückt ihm seinen Stempel auf. Auch du hast Einflussmöglichkeit. Wer reproduziert, der kann auch auch variieren, nachhaltig.
Man kann schon. Die Frage ist nur, wie lange die neuerliche Nachdenklichkeit in grundsätzlichen Fragen vorhalten mag. Kaum glaubt man die Talsole der Wirtschaftskrise erreicht zu haben, kehrt man wieder ab von der Umkehr. Der eigene Job scheint nicht mehr in akuter Gefahr und damit schwindet jede Motivation, sich für Veränderung einzusetzen. Selbst der Wahlkampf beschränkt sich auf den Streit darüber, ob man denn überhaupt streitet. Warum sollte man auch – ist man sich ja im Prinzip einig, was sich ändern soll: Wenig, damit alles wird, wie es war. Und so fordert auch jeder öffentliche Protest bei Studenten wie Metallarbeitern, die Rückkehr des Vorherigen. Reformieren soll man das Andere, damit das Eigene bleibt. So versucht jeder seinen Einfluss zu nutzen, seinen Einflussbereich vor Veränderung zu schützen. Dem passt sich populäre Politik an, ein schlechter Nährboden für fruchtbare Debatten. Wo ließen sich auch Dinge anstoßen, wenn das allgemeine Heilsversprechen lautet: Stillstand.
Vielleicht ist dies aber auch ein gutes Zeichen. Denn es gibt Zeiten, in denen der Mensch kaum in Frage stellt, was er Zeit seines Lebens für sicher glaubte. Wie Kritik das Produkt der Krise ist, entspringt dieses Einverständnis mit dem Gegebenen möglicherweise der Stabilität des Wohlstandes. Entweder also ist die Krise nicht so schlimm, wie gedacht, oder es wird bloß nicht darüber nachgedacht. Vielleicht ist es ein wenig von Beidem. Wo man glaubt seinen Zenit erreicht zu haben, kann alles neue nur Angst machen.
Um nun reflektiert zu handeln, müsste man sich schon berufen fühlen, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Nicht allein Politik müsste abrücken von einer öffentlichen Debatte, in der Änderung immer nur mit Verlustängsten und Verteilungskämpfen gleichgesetzt wird. Und diese Diskussion kann man nicht bloß Berufspolitikern überlassen. Man sollte endlich die Chance ergreifen, die eigenen Gestalungsmöglichkeiten für wahr zu nehmen. Frage man nicht immer nur, was man hätte tun können. Fragen wir endlich, was wir tun wollen. Handeln wir danach.
Vorliegender Essay war Beitrag zum Wettbewerb der „Zeit“, schied jedoch bereits in der Vorrunde aus – was mich jedoch nicht davon abhält, ihnen dennoch damit unter die Augen zu treten, werte Lesende. Dafür bitte ich vielmals um Entschuldigung.
haha ich hatte auch vor mitzumachen… aber man kommt ja zu nix