Ob Schriften die Welt verändern können ist eine Frage, über die bereits viel geschrieben worden ist, ohne dass sich eine eindeutige Antwort hätte finden lassen.
Für die einen kann das rechte Wort, die richtige Geschichte das Denken der Lesenden so beeinflussen, dass sie hernach selbst die rechten Worte sprechen und ihre Geschichte zum besseren wenden werden. Für die anderen haben Worte nicht einmal flüchtigen Einfluss. Verzögert ihre Verschriftlichung auch das Vergessen, so verhindert es niemals nur eine einzige schlechte Tat, verbessert nicht einen der Umstände, gegen die es Anklage erhebt.
Beide Positionen haben treffende Argumente und gehen doch fehl. Sieht man sich die Geschichte des Rechtes an, so wird man eines leicht feststellen: Gesetze gegen das Schlechte werden es nie völlig aus der Welt schaffen. Verbietet man aber das Gute, hält sich der Mensch daran. Nie wird ein moralisches Buch einen unmoralischen Menschen zu verantwortlichem Handeln anleiten. Ein unmoralisches aber bestärkt seinen Relativismus. Das pessimistische Buch vermag den Idealisten nicht zu desillusionieren, dagegen schläfert ihn das utopische weiter ein. Zum Handeln bedarf man keiner Worte, nur um sich zu rechtfertigen bemüht man sie. Um dieses Warum sind Jahrtausende verschriftlichter Kultur entstanden. So dient uns die Schrift in erster Linie dazu, Schlechtes gut zu begründen und das Gute in die Träumerische Perspektive zu setzen; Licht wartet am Ende des Tunnels. Letztlich trennt auch die Utopie säuberlich zwischen dem Sein und dem Sollen. Das Gute verklärt sie dabei als etwas, das es geben könnte, auch wenn nicht hier, nicht jetzt. Utopien zementieren die Realität, welche sie scheinbar überwinden wollen. Sie dienen den Menschen auch als Kompensation im Traume, da ihnen im Wachen vieles nicht gefallen kann. Deshalb lässt sich die Frage beantworten: Ja, das Wort verändert die Welt in der wir leben — aber sicher nicht zum Guten.
Warum also noch diesen Acker bestellen, auf dem Menschen ihre kruden Ausflüchte und Entschuldigungen kultivieren? Sollte man nicht besser verstummen? Tatsächlich kann Rebellion heute schon heißen, nichts zu sagen. Doch das reine Handeln stößt ebenso schnell an Grenzen. Im Falschen wird das Richtige sanktioniert. Unendlich frustrierend muss das moralische Handeln erscheinen, wird doch für jede schlechte Tat ein gutes Gewissen angeboten – anders herum gilt es übrigens genauso.
„In einem Zustand des üblen Spukes und des Betruges wird der Gedanke rein dadurch gefährlich, daß er richtig ist, und Geister, die das rechte Maß besitzen, wirken wie ein Spiegel, in denen sich die Nichtigkeit der Schattenwelt enthüllt. Ein logischer Gedanke, ein reines Metron, eine edle Tat, ja selbst die Nichtbeteiligung am Niedrigen — das sind heute Dinge, die sich erheben wie drohende Waffen, die um so schärfer wirken, je weniger man sich auf die Zeit bezieht.“ (Ernst Jünger, Briefe)
Was lässt sich also tun, wenn Tun allein zu gar nichts führt? Man kommt ohne das Schreiben nicht aus. Und letztlich soll es doch zum Besseren uns führen können. Wie nun aber, wenn wir den anfänglichen Schlüssen folgen mögen? Sein Ziel muss sein, Ausflüchte und Rechtfertigung zu destruieren ohne dadurch selbst Ausflucht zu werden oder Rechtfertigung. Es darf deshalb die Gegenwart weder transzendieren noch relativieren. Ein nahezu wahnwitziges Unternehmen, wo Zerstörung doch immer relativiert, dass Dasein überschreiten muss. Gleichzeitig darf es nicht in einen faktischen Realismus verfallen, einen Pragmatismus, der alles nur durch sein bloßes Dasein legitimiert.
Wie ist dies im Falle der Utopie möglich? Die meisten Menschen bewahren sich utopische Perspektiven als „eigentlich müsste man ja mal“-Alternativen, die alle Fehlfunktionen ihres Alltages relativieren sollen. Die innere Opposition dient als Rechtfertigung des opportunistischen Handelns. Solange man sich versichern kann, das Schlechte als schlecht zu empfinden und zu wissen, was dagegen das Gute wäre, solange führt man das eigene schlechte Handeln nicht auf sich selbst zurück. Man kann es mit gutem Gewissen ausführen, denn es ist „ja eigentlich“ nicht in einem selbst begründet. Es liegt an den Umständen, die einen zwingen.
Auch vertrösten sich viele Menschen mit Utopien. Das Jetzt mag zwar den Wünschen und Absichten widersprechen, aber man könnte es „ja eigentlich“ auch mal ganz anders versuchen — mit Buddhismus etwa, vielleicht straight-edge, einfach aussteigen oder endlich mal irgendwo voll und ganz einsteigen. Auch diese Gegenentwürfe festigen letztlich nur die Befangenheit in den gegebenen Umständen. Wo sie nicht zur inneren (oder äußeren) Emigration führen, da dienen sie als kognitive Kompensation des Anstoßes. Wenn man glaubt, irgendwo einen Notausgang gesehen zu haben, fühlt man sich nicht in der Falle. Letztendlich bleibt aber eine Option, die man nicht nutzt, nur eine Option, die man nicht hat. Dieses jedoch zu erkennen fällt schwer, schwerer noch es sich erklären zu lassen. Man gibt den Unterbau des eigenen Selbstbildes ungern dem Zweifel preis.
Wie nun soll man gegen diese verbreiteten Utopien vorgehen? Indem man sie realisiert. Der Wunschtraum als kognitiver Ausweg aus der Misere macht das Unerträgliche zwar oft erträglich, bei seiner Verwirklichung aber zeigt sich in den meisten Fällen schnell, wie unerträglich die eigenen Wünsche sind. In letzter Konsequenz durchdacht entpuppen sich Utopien als unserem Alltagsverständnis so fremd, dass sie zur Dystopie werden. Nicht selten stürzt ein Mensch, der sich wirklich vornimmt eine Utopie zu leben und doch an ihrer Ausführung scheitert von einem Traumbild ins nächste, einem Süchtigen gleich, der sich eine Droge durch die andere entzieht. In abgeschwächter Form zeigt sich diese Entwicklung an Menschen, die diese gewisse Leere in ihrem Leben abwechselnd durch jeweils aktuelle Sinntrends zu füllen suchen. Die kompensatorische Struktur bleibt sich gleich, während der Inhalt austauschbar ist — ein Prozess, der dem steten Wechsel der paradigmatischen Ideologien ähnlich ist. Das macht die strukturelle Utopie auch nahezu unangreifbar. Es reicht nicht aus, einzelne Utopien zu destruieren, man muss die kompensatorische Struktur selbst entlarven. Und dazu muss man sie realisieren. Dies ist exemplarisch auch durch Wort und Schrift möglich. Nur stellt sich die Frage, ob Schriften etwas an der strukturellen Kompensation durch Utopien ändern können.
Sollte man die Frage verneinen, hätte man wiederum eine wunderbare Rechtfertigung, es nicht zu versuchen. Doch auch wenn es uns heute absonderlich vorkommt, sollte man vielleicht nicht immer und ausschließlich nach dem Warum des Handelns fragen. Mir erscheint eine positive Beantwortung der Frage nicht einmal zwingend, um es trotzdem zu versuchen. Denn obschon man dazu neigt, sich selbst als zweckbestimmtes Wesen zu betrachten, würde ich doch neben die Frage nach dem Warum oder Wozu auch das Wie nicht gänzlich außer Acht lassen wollen. Fragt man sich, wie Es, wie man selbst sein soll, so tendiert man vielleicht doch eher dazu, dem eigenen Wort und seiner Kraft Vertrauen zu schenken, dass es das bloße Warum einmal zu überschreiten und die ewigen Rechtfertigungsstrukturen zu durchbrechen im Stande ist. Dann entstünde eine zweckfreie Schrift, auf die sich keinerlei Entschuldigung stützen könnte. Klingt wiederum verdächtig utopisch, weshalb man es wohl besser lässt.