Farce

Vor etwa dreiundzwanzig Jahren lebte in Dülmen ein fauler Student der mittelalterlichen Geschichte allein und genügsam in einer recht heruntergekommenen Dachwohnung unter dem Schatten einer kleinen Kirche. Eines Morgens, die Turmuhr hatte gerade 11 Uhr geschlagen, wurde sein Schlaf durch die folgende, ungehörige Begebenheit nachhaltig gestört: Die Wirtin hämmerte heftig gegen seine Zimmertür. Nach einigen Minuten der wüstesten Ruhestörung regte sich allmählich etwas in der mit zerschabten Möbeln und abgewanzten Kunstdrucken typisch eingerichteten Studentenbude. Man hörte eine Flasche umfallen und sehr lange ohne jeden Widerstand herumrollen. Der Student jedoch lag noch immer, wenn auch widerwillig murrend, in seinem warmen Bett. Es war die Katze gewesen. Sie hatte auf ihrem Weg durch die Dachluke eine leere Weinflasche umgestoßen.

Das laute Hämmern aus Herrn Meiers Wohnung rührte diesmal nicht, wie es alle seine Nachbarn vermuteten, vom abermaligen Umhängen seiner scheußlichen neoklassizistischen Gemälde, sondern daher, dass er mehrere verzinkte Nägel in den Kopf seiner toten Frau schlug. Mit jedem Hammerschlag surrten die kleinen Metallstifte in höherem, ansteigendem Klingen, bis sie schließlich mit einem letzten, satten Ton in der Schädeldecke versanken. Diese Betätigung diente freilich keinerlei praktischem Nutzen, Meier jedoch empfand sie als große Entlastung, ja Befriedigung. Seine Frau wusste dabei nicht, warum und wie ihr geschah. Wie sollte sie auch, war sie doch bereits tot. Die ersten Hammerschläge hatten noch keinen Nägeln, sondern vielmehr ihrem blanken Leben gegolten und mühelos die Knochen ihres Schädels zertrümmert sowie im dahinterliegenden Gewebe irreparablen Schaden angerichtet. Was das für ein Gefühl ist, wenn sich der stumpfe Schlagkeil eines Hammers seinen Weg durch das eigene Gehirn wuchtet, wagt man mit Worten nicht zu beschreiben. Hätte Frau Meier vorher noch Zeit und Geistesgegenwart genug gehabt, auf das extrem aggressive Verhalten ihres Mannes hin etwas zu sagen, so wäre es vermutlich ein tiefer Ausdruck der Verwunderung gewesen – so etwas wie „oh“ oder „nanu!“ Nun ja, Frau Meier war nicht gerade jemand, der zu tiefer Verwunderung fähig gewesen wäre, jedenfalls mit zunehmendem Alter nicht mehr. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Dasein verdreckte sie nun das Haus. Scheußlich! Herr Meier grinste und setzte einen neuen, einen letzten Nagel an. Die Vielzahl der in sie getriebenen Zinkstifte hatte jedoch mittlerweile ein Stück der Schädeldecke herausgeprickelt und so führte der nächste Schlag Herrn Meiers zu einer noch größeren Sauerei – der Kopf platze auf und gab seinen Inhalt nur allzu enthusiastisch preis. Hirngewebe und dickes, stückiges Blut spratzten in dicken Spritzern an die Wand und auf den Teppich. Ekelhaft! Herr Meier lachte, so wie Kinder lachen. Es war ihm eine Wonne.

Lars, denn so hieß der faule Student, hatte sich mittlerweile mehr oder weniger angezogen und stapfte sich am Hintern kratzend in Richtung Zimmertür, an die noch immer unablässig geschlagen wurde. Die genervte Wirtin bewies ziemliches Durchhaltevermögen und als der Student die Tür dann schließlich doch noch öffnete, verirrte sich ihr letzter Schlag Richtung Tür zu einem weitausholenden Schwinger und ihr Untermieter musste sich, für ihn erstaunlich reaktionsschnell, ducken, um nicht mitten ins Gesicht getroffen zu werden. „Aber, aber Frau Oberin – wer wird denn gleich zuschlagen wollen? Darf ich fragen, womit ich mir diesen Akt der Agression verdient habe?“ „Die Miete…“, knurrte sie.

„Die Miete!“ wiederholte die Wirtin energisch, „die…“ – „…Miete, ja. Die Miete steht ihnen natürlich zu und ich denke unablässig daran. Glauben sie mir, mich schmerzt es doch am meisten, bei legitimen Ansprüchen mit den Zahlungen in Verzug zu geraten, nur plagen mich momentan generelle Geldsorgen, Forderungen jedweder Seite im Besonderen und ganz speziell die ausstehende Zeche eines gewissen, stadtbekannten Lokals. Sobald ich aber wieder an Geldmittel gelange, und ich bin guter Dinge, dass es bald dazu kommen könnte, warte ich doch seit einigen Tagen auf mir von meinem Oheim versprochene Wechsel in beachtenswerter Höhe, sein sie versichert, wird es mir eine ebenso große Freude sein, wie natürlich auch ihnen, meine ausstehende Miete unverzüglich und voll zu zahlen, mit Zinsen und samt Trinkgeld, versteht sich. Da lässt man sich nicht lumpen!“ Lars sah seinen Monolog im Gesicht der Wirtin ausklingen. „Nicht lumpen?! Die Miete!“ stieß sie noch einmal bedrohlich hervor, machte auf den flachen Absätzen kehrt und stampfte den Flur herunter. Lars grinste ihr hinterher, hob die Zeitung auf und schloss die Tür.

„Ein Pils bitte.“ Herr Meier blickte sich um. Seit seinen Studientagen hatte sich in dieser Kneipe Merkliches getan. Sie hatte einige neue Besitzer gehabt, wurde dementsprechend oft umdekoriert, manchmal modern, manchmal etwas schnodderiger und schließlich war es wohl zu einer Kombination von Beidem gekommen. Er war lange nicht mehr hier gewesen, und so kannte er den jungen, gelangweilt umherblickenden Barmann nicht. Der zapfte gerade wenig professionell so vor sich hin, fragte schließlich „Und? Wie läuft’s?“ – „Muss“, erwiderte Meier und legte einen kleinen Schein auf den Tresen. „Stimmt so.“ Er nahm einen großen Schluck und kramte in seiner Sakkotasche nach den Zigaretten, dann fiel ihm wieder ein, dass er seit Jahren nicht mehr rauchte. Alte Gewohnheit, dachte er sich, er war ja auch seit Jahren in keiner solchen Kneipe mehr gewesen. „Verkauft ihr auch Kippen?“, fragte er den Wirt. „Nein, aber hier darf man eh nicht mehr rauchen.“ Antwortete der. Meier nickte und nahm noch einen Schluck. Dann eben nicht.

Lars blickte von der Zeitung auf und runzelte die Stirn. Ermordet? Man las das ja oft, aber dies war ganz in der Nähe geschehen, im selben Stadtviertel. Vielleicht hatte er hinter dem Opfer in der Supermarktschlange gestanden, oder mit dem Täter zusammen am Tresen gehockt. Das war möglich, im Grunde gar nicht so unwahrscheinlich, wenn man berücksichtigte, wie manche von den Leuten aussahen, neben denen er sich abends oft am Tresen wiederfand. Lars blickte seinen Nebenmann an, einen unscheinbaren Mittvierziger, der kaum von seinem Glas aufsah. Der, ein Mörder? Der nicht, den kannte er schließlich, der fuhr doch Taxi. Lars hing dieser obskuren Vorstellung trotzdem noch einige Zeit lang nach, versuchte sich ein Gespräch mit einem Mörder auszumalen, eine Diskussion über Motive, über Methoden und die moralische Rechtfertigung eines Mordes. Raffiniert müsse man es schon anstellen, es zufällig wirken lassen, dann käme man sicher auch mit dem schlimmsten aller Verbrechen davon. Diese Gedankenspiele reizten ihn wohl umso mehr, da er sich im Klaren darüber war, dass es bloße Gedankenspiele bleiben würden. Er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, das sah man ihm direkt an. Lars kramte in seiner Sakkotasche nach den Zigaretten, dann fiel ihm wieder ein, dass er gar nicht mehr genug Geld hatte, um sein Bier zu bezahlen. Das konnte nun wirklich peinlich werden. Er blickte sich nach dem Barmann um, versuchte auf eine günstige Gelegenheit zu warten, um ungesehen zu verschwinden. Er würde schon zahlen, nur eben nicht heute. Verstehen könne das sicher jeder, wenn es zu erklären jetzt auch wohl eher der falsche Zeitpunkt wäre, dachte Lars.

„Na? Schon wieder in Habachtstellung!“ Wie ertappt zuckte Lars zusammen. Man hatte ihn durchschaut. Aber man lächelte nur. Frau lächelte; breit. Dieselbe Frau wie vorgestern, wie war ihr Name noch gleich? Anna war etwas verwundert, dass der sonst so wortreiche junge Herr vor ihr nichts sagte. „Na lass mal“, brachte nach kurzer Stille schließlich sie hervor. „Ich lad dich ein.“ Dann nickte sie dem Wirt zu, der mit kaum wahrnehmbarer Bewegung den Kopf schüttelte. Lars Augenbrauen hoben sich, seine Mundwinkel zuckten leicht und schließlich verwandelte sich dieser Gesichtsausdruck in eine Art Lächeln. Er steckte sich eine Zigarette an.

Eine etwas ältere Frau betrat die Kneipe und setzte sich an einen der Tische. „Was heißt älter? Sie ist genauso alt wie ich!“, dachte Herr Meier. Sie bestellte Kaffee und spielte an einem dieser neumodischen Geräte herum, mit denen man auch telefonieren konnte. Meier betrachtete Sie eine Weile und trank dabei sein Bier aus. Sie schien voll und ganz mit ihrem Gerät beschäftigt, wahrscheinlich spielte sie eines dieser Spiele, bei denen man mit geometrischen Figuren möglichst schnell irgendwelche symmetrischen Formen herstellen muss. Was für eine Zeitverschwendung. Meier trank einen Schluck Wasser, räusperte sich und ging auf ihren Tisch zu. Sie blickte auf. „Darf ich stören?“, fragte Herr Meier. „Wir kennen uns noch nicht. Mein Name ist Lars“, sagte er und begann zu lächeln.

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