Wenn ich am Fenster sitze und normale Menschen sehe, frage ich mich immer, was das eigentlich ist: ein normaler Mensch. Und ich frage mich, wann, ob auch ich zu so etwas werde. Das hat nicht mehr viel Zeit, genau betrachtet. Naja, Passanten verleiten einen doch schnell dazu, autobiographisch zu werden. Dabei gibt es dort draußen ja beileibe noch andere unheimlich interessante Dinge zu sehen. Landschaften, Strommasten, Frauen…
Ich liebe diese Stadt, die so aufgeräumt, so sauber und von Grün durchwachsen ist, dass man sie eigentlich gar nicht als Stadt bezeichnen kann. Man erkennt sie nicht als solche. Viele finden sie zu provinziell, zu gutbürgerlich, zu langweilig und ja, wenn man durch die Vorstadt geht, durch die gehobenen Viertel entlang der Promenade flaniert, dann ist sie all das. Und doch trifft das Urteil nicht zu. Auch hier haust das Elend in seiner schlimmsten Form – der häuslichen. Auch hinter diesen Fassaden wohnt die pure Verzweiflung, nur sind die Decken höher und es stehen mehr Bücher darunter. Das gibt wohl dem Ganzen erst eine solche Faszination, da man es hier noch schafft, den Schein zu Wahren. Man gibt noch etwas darauf, wie sich jemand gibt, denn dieser Schein ist alles, was den Hedonisten vom gewöhnlichen Penner unterscheidet, den Exzentriker von „F60.31 G“. Diese Unehrlichkeit und Oberflächlichkeit ist das, was man im besten Sinne gutbürgerlich nennt. Und das liebe ich, da es mir auf einer gar nicht unehrlichen und oberflächlichen Weise entspricht.
Neulich, als ich da am Fenster saß, hatte ich mir vorgenommen, anstatt den Menschen nunmehr der Realität ins Auge zu blicken. Ich brühte mir einen Kaffee auf und rekapitulierte die Geistesgeschichte, wie sie sich uns seit der Moderne darstellt: Die metaphysische Rückbindung an irgendeinen Gott, irgendeine höhere Macht, ist gekappt. Warum hätte diese auch jemals so etwas ermöglichen sollen wie die Bahnrampe bei Auschwitz oder die heutigen Castingshows? Doch nicht nur die Auslese, auch die Ganzheitlichkeit, die Esoterik ist gescheitert, so wie sämtliche schulmedizinische Wege, das Bewusstsein zu erweitern. Da ist einfach nicht viel, das sich erweitern ließe und wenn wir ehrlich sind, ist uns unser jetziges Bewusstsein doch schon weit mehr als wir ertragen können. Wer will denn da noch mehr wahrnehmen von den Lohnsklaven, die unser Gemüse anbauen und von den Dreckssäcken, denen wir die Verantwortung übertragen haben? Wo immer wir es schaffen können, betäuben wir unser Bewusstsein mit Zeit- und Gedankenvertreiben, so abstrus sie auch sein mögen. Ich für meinen Teil schaue zum Beispiel unglaublich gerne Fußball. Das halte ich für legitim. Man hat ja im Grunde nichts als Zeit und seinen Körper. Da liegt es nahe, aus Beidem das Beste zu machen. Das sagte ich mir und schenkte nochmal nach.
Nun, wo kein Leben nach dem Tod folgt, sollte das Leben vor dem Tod anscheinend möglichst lange währen, folglich sollte man auf seinen Körper Acht geben. Ein gesunder Geist lebt in einem gesunden Körper, sagt man. Geschichtlich betrachtet ist das allerdings ziemlicher Bullshit. Es sei denn, man möchte nahezu sämtlichen Geistesgrößen der Vergangenheit ihre mentale Gesundheit absprechen. Das ist übrigens genau das, was wir heutzutage in den Humanwissenschaften tun. Entweder können wir es nicht ertragen, Genies als solche anzuerkennen oder wir wissen es tatsächlich besser. Letzteres erscheint fraglich, wenn man mal den Fernseher anmacht oder die Zeitung „aufschlägt“. Für diesen Fall empfiehlt es sich übrigens, starken Alkohol im Hause zu haben – aus therapeutischen Gründen. Alternativ kann man sich auch einfach bewaffnen. Statistisch gesehen gibt es übrigens annähernd so viele Waffen wie Menschen auf der Welt, diese sind aber sehr ungerecht verteilt. Ich z.B. habe keine. Vor allem die Menschen in der dritten Welt sind, was das angeht, wesentlich besser versorgt.
Inzwischen war ich übrigens mit der zweiten Kanne Kaffee fertig und hatte derweil eine halbe Flasche Universalverdünnung (Wodka) verbraucht. Auf solche Weise streckte ich den Kaffee in letzter Zeit häufiger, denn das steigerte seine und meine Potenz merklich. Schon eine Tasse regt den Stoffwechsel deutlich spürbar an und vereitelt jeden noch so bedrohlichen Anreiz zur Resignation. Welche körperlichen Mechanismen dem zugrunde lagen und wie ihre langfristigen Auswirkungen sein mochten, war mir dabei, ist mir dabei recht egal.
Es ist ein ziemlicher Irrglaube unserer Zeit, dass alles stets dem Körper zugutekommen müsse. Es gibt sehr viele, sehr schöne Dinge, die dem Körper überhaupt nicht zugutekommen. Pommes z.B, alt werden oder auch Partys zu feiern. Letzteres, so man es richtig angeht, gehört wohl mit zu den selbstzerstörerrischsten Tätigkeiten, die das Multiversum kennt. Aber feiern macht frei. Ich hab’s erlebt. Und es lohnt sich mehr, als 3% weniger Körperfett. Worin das Geheimnis dieser befreienden Wirkung liegt, darüber haben sich sehr viele, sehr schlaue Menschen schon den Kopf zerbrochen. Man kann die Ergebnisse prägnant damit zusammenfassen, dass eine Party a) ein begrenzter Zeitraum ist, in dem b) viele der alltäglichen Verhaltensnormen außer Kraft gesetzt werden. Wahrscheinlich liegt es aber auch nur an den Unmengen an Bier und billigem Fusel, die man in Gegenwahrt des anderen Geschlechtes zu sich nimmt. Solange jedenfalls bei dem Genuss von Rauschmitteln a) noch zutrifft, garantieren sie erstrebenswerte Erfahrungen. So oder so führt dies unweigerlich zu b) und das kommt dem wohl am nächsten, was man gemeinhin unter Freiheit zu verstehen sich erdreistet. Manchmal muss man eben etwas dreist sein, gerade in Gegenwart des besagten, anderen Geschlechtes. Sonst wird man zwar alt, aber einsam. Und dann währt wiederum nichts länger als die bloße Weile.
Das Licht kam meinem Auge bedrohlich nahe. Ich war wohl eingeschlafen und an meiner Wange klebten Reste von Kaffee, Zucker und Alkohol. Die Realität um mich her war wüst, aber nicht leer. Leider. Nichts schränkt die Freiheit so sehr ein, wie das Gerümpel, mit dem wir unsere Lebensräume füllen, um den Schlaf erträglicher und den Tag ergiebiger zu machen. Vor allem dann, wenn es brennt – also im Rachen. Ich blickte hilfesuchend umher und meine müden Augen stolperten über den Kalender. Der 30. April? Ich war nicht gerade in der Verfassung, um in den Mai zu tanzen, aber das half nichts. Daten stehen fest. Die wichtigste Anforderung eines wahren Besäufnisses, wie es sich für dieses Datum gehörte, hatte ich schon erfüllt: Ich hatte den vorherigen Tag nicht nüchtern beschlossen. Nur so kann man diese seltsam unwirkliche Tagesform erreichen, die es braucht, um sich wirklich zu betrinken. Na denn Prost, dachte ich.