Es geht um Mord

Es war an einem Samstag in Stapelholm, das liegt – wie man an der Aussprache des Anfangsbuchstabens erkennt – im hohen Norden, wo es so idyllisch und ruhig ist, dass man meinen könnte, die Natur selbst würde hier Wochenende halten und sich eine Pause gönnen. Die Spatzen lagen faul in ihren Nestern rum, legten die Füße hoch und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein. Es war also in Stapelholm, wo mitten in diese Ruhe und in diesen Frieden hinein eine Leiche lag. Tot, auf einem Feld, einfach so, am Samstag. Nun kennen Sie die gängigen Krimiformate und wissen vermutlich, was so ein „Tatbestand“ nach sich zieht. Der Notarzt wird gerufen und die Polizei, natürlich brauchen sie ein paar Stunden, aber irgendwann sind sie dann da und es ist vorbei mit der Idylle. Autos, Absperrband, Leute in Stiefeln – das passt nicht zum ländlichen Wochenendidyll und auch die Spatzen rieben sicher verwundert den Hinterkopf, was denn da wohl passierte. Was passiert war, wussten sie ja, sagen konnten sie es aber nicht, denn wenn man auch gemeinhin zu sagen pflegt, dass eine Neuigkeit gar keine mehr sei, weil diese mittlerweile selbst die Spatzen von den Dächern pföffen, so ist das ja nur eine Metapher. Keine besonders schmeichelhafte für die Spatzen, stellt man sie so doch als diejenigen dar, die alles zuvorletzt mitbekommen aber dennoch keinen Moment zögern, es noch möglichst laut herauszuposaunen. Dabei sind es ja eigentlich ganz aufgeweckte kleine Kerle, weshalb sie sogar als allererste und ganz genau mitbekommen hatten, was geschehen war. Darüber hinaus gab es hier auch gar keine Dächer, es war ja wie gesagt auf freiem Felde, wo kein Scheune, kein Schuppen und nicht einmal ein kleiner Schuber stand. Vergessen wir also diese blödsinnige Metapher!

Was war passiert, fragten sich der anwesende Arzt, der nur noch den Tod feststellen konnte, schließlich handelte es sich ja um eine Leiche, sowie der anwesende Polizeiwachtmeister der nahegelegenen Wache Nordersiel-Emsbüsen. Auch sie rieben sich die Hinterköpfe und hatten dazu sogar ihre Mützen abgenommen. Herzinfarkt, vermuteten beide einhellig, denn das liegt ja sehr nahe, wenn jemand tot auf freiem Feld herumliegt, wo sonst nur Schafe und Kaninchen ihr Unwesen treiben und allenfalls einmal ein Fuchs – der dort aber, trotz anders lautender übler Nachrede seitens der Nordersieler, keinesfalls vorbeikommt, um den stapelhorner Hasen eine gute Nacht zu sagen, sondern um seinen Appetit zu stillen und dabei, wenn überhaupt, dann ja wohl höchstens seinen Cofüchsen einen guten Tag zu wünschen. An diesem Urteil, Herzinfarkt, war also im Grunde genommen nichts auszusetzen, war doch Anlass zur Annahme gegeben, dass letztere und ersteres zuträfen. Trafen sie jedoch nicht.

Hätte der Arzt seiner Verantwortung entsprechend genauer hingesehen, als er es womöglich auch aufgrund des, durch das vorabendliche Festbankett der Freiwilligen Feuerwehr Kronbörde verursachten, leichten Brummschädels getan hatte, so wäre ihm vielleicht die kleine Einstichstelle zwischen den beiden mittleren Zehen des rechten Fußes aufgefallen, die zwar nicht leicht zu sehen und unter Schuhen und Socken versteckt, aber nichtsdestoweniger vorhanden war. Offensichtlich musste der Leiche noch vor Ihrem Tod mit einem sehr kleinen, sehr spitzen, spritzenartigem Gegenstand heftig in den Fuß gepiekt worden sein, und zwar so penetrant, dass es geblutet hatte, wie es schon manchmal vorkommen kann, wenn man die Schuhe neben dem Schreibtisch abstellt und der Zufall es so will, sei es behelfs einer unachtsamen Armbewegung oder mittels eines kräftigen Windstoßes, dass eine Reißzwecke ihren Weg vom Schreibtisch herunter und in den Schuh hinein findet und zwar auch noch dergestalt, dass die Spitze sich bei Belastung nicht etwa in die aus Kunststoff bestehende Sohle des Schuhes bohrt, sondern gnadenlos in das Fleisch des ein- und auftretenden Fußes. Au-ha! Diese Verkettung unglücklicher Umstände hatte zwar mit dem Eintreten des Todes gar nichts zu tun, aber zumindest hätte es den Arzt stutzig werden lassen können, denn der wusste ja nichts von der Schuhgeschichte und so hätte er den Einstich auch für den einer tödlichen Injektion halten können, wobei aber schon fraglich gewesen wäre, wie denn die jetzige Leiche, vormals Frau, offenbar aus eigener Kraft und mit einem schönen Spazierhut auf dem Kopf oder in der Hand – dieser lag ja nun einfach irgendwie so dar und man konnte nicht feststellen, in welcher Position er sich zum Todeszeitpunkt befunden hatte, denn es war schon den ganzen Tag, wie hier eigentlich immer, recht lebhaft windig gewesen – noch aufs freie Feld gekommen war, und das ein ganzes gutes Stück aus dem Dorf heraus und von der befestigten Straße weg, bevor der Tod eingetreten war.

Wäre der Arzt, der Polizist oder wäre zumindest jemand aus dem Bekanntenkreis der Toten „stutzig“ geworden, wie man gemeinhin das Vorliegen eines Anfangsverdachtes bezeichnet, dann hätte irgendjemand sicherlich weitere Ermittlungen bezüglich eines gewaltsamen Todes einleiten sollen oder können. Aber wer möchte schon an so etwas grauen- und gewaltvolles denken, wenn die Leiche doch gerade so friedlich unter freiem Himmel neben ihrem schönen Spazierhut liegt, als habe ein findiger Fotograf sie dort mit feiner Hand für den Faltkalender mit den idyllischsten Leichenfunden des Jahres drapiert. So jedenfalls würde es wohl nie herauskommen, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Und das tat es auch nicht. Unbemerkt blieb nämlich der Mageninhalt der armen Frau, vermutlich wohl in erster Linie deshalb, da er eben noch Mageninhalt war und sich nicht, wie bei den meisten Vergiftungen üblich, in der Umgebung der Vergifteten verteilt hatte. Es ließ sich deshalb, weil man es nicht unternahm, auch nicht bestimmen, welches Gift es gewesen war, dass nach oraler Aufnahme mit einiger Verzögerung, dann aber jedoch recht plötzlich und nachhaltig, zu verschiedenen Symptomen geführt hatte, unter denen auffallend rote Wangen sicherlich das harmloseste, der Tod jedoch das für die Betroffene vermutlich unliebsamste gewesen sein wird. Die roten Wangen standen ihr jedenfalls nicht schlecht und hätte sie sich nicht in dieser unnatürlichen Haltung auf dem Boden befunden, der recht eindeutig die Abwesenheit jeden Lebens im darniederliegenden, jetzt nur mehr bloßen Objekt zu entnehmen war, ihrem Gesicht allein hätte man durchaus ein feuriges Temperament und eine gewisse Attraktivität zusprechen können. Aber wir wollen hier ja nicht in gänzlich unpassende Gedanken verfallen. Sie war schließlich tot und man würde nie herausfinden, warum.

Das jedoch ist für eine Kriminalgeschichte über einen Mordfall denkbar schlecht. Denn wenn dieses Sujet in den letzten Jahrhunderten auch eine Vielzahl an Ausformungen, Abwandlungen und alternativen Ansätze entwickelt hat, so gehört doch zu jeder dieser Varianten letztlich, ja zwingend das Zutagetreten eines einerseits unfreiwilligen, andererseits durchaus gewollten Ablebens oder zumindest die Annahme eines solchen, die sich im Nachhinein – nach einigen Irrungen (Protagonisten treffen auf Probleme), Wirrungen (Protagonisten entwickeln sich weiter) und jeder Menge Füllstoff (Autoren erzählen von dem, wovon sie glauben, etwas zu verstehen) – entweder bestätigt oder eben nicht. Es lässt sich eine Handlung ansonsten auch schlecht stricken. Wie soll man auf die Motive des Exfreundes der Toten zu sprechen kommen, wenn ihn niemand fragt? Wie soll man ihre dunkle Vergangenheit, die verheimlichte Abtreibung und Affäre mit dem Tennislehrer langsam aufdecken, als Motive der Be- jedoch nicht Tatbeteiligten nach und nach ausschalten können, wenn niemand da ist, der den Leser an die Hand nimmt und an seiner statt den Fall entwickelt, nachdenkt und die nötigen Schlüsse zieht? Ohne dieses Händchenhalten bleibt für uns selbst die Art des Giftes im Dunkeln und wir wissen nur, dass es kein Erbrechen verursacht, dafür aber rote Wangen. Andererseits kennen wir, das Publikum, ja doch alle, wie eingangs erwähnt, diese Mordfallgeschichten schon dermaßen in- und auswendig, dass einige Klischees und Strickmuster, wie der ewige Gärtner, längst Eingang in unseren Sprachschatz gefunden haben und wenn man erst einmal dahinter gestiegen ist, wie sie funktionieren, reicht eigentlich schon die bloße Auflistung der wichtigsten Fakten, vielleicht noch der daraus geschlossenen Irrtümer und schließlich der überraschenden Wendung, um den Rest der Kriminalgeschichte für den Leser zu verüberflüssigen. Den Ablauf und sogar die Stilmittel kann man sich schließlich, eigentlich ganz gut selbst zusammenreimen, völlig ohne die Beihilfe eines überbezahlten und frustrierten Autoren, in dessen Notizenheft das alles viel spannender und weniger vorhersehbar ausgesehen hatte, als es sich dann tatsächlich darstellt. Es war dann natürlich doch der Tennislehrer, obwohl sein Alibi anfangs so hieb- und stichfest geschienen hatte. Tennisstunden eben. Aber wie sollte ein Alibi in eine Geschichte ohne Anfangsverdacht hineinpassen? Er brauchte ja gar keines, obschon er sich zuvor monatelang Gedanken darüber gemacht hatte, wie er zu einem kommen konnte. Er hatte recherchiert, welches Gift unauffällig genug sein konnte, damit ein Mordverdacht vielleicht erst gar nicht aufkeimen würde. Er hatte sich überlegt, wie er dieses Gift einer Frau verabreichen konnte, die ihm weder vertraute noch ihn unbeaufsichtigt in ihre Wohnung lassen würde. Wie er die Einnahme des Giftes sicherstellen und darauf vertrauen konnte, am Tage ihres Todes zu keiner Zeit allein und ohne Zeugen zu sein. Nun war er „nur“ Tennislehrer – ein mit Klischees und Vorurteilen schwer behafteter Beruf; nicht zu Unrecht – und folglich war ihm dabei völlig entgangen, dass die Polizei sicher nicht allein nach jemandem suchen würde, der zum Todeszeitpunkt der Vergifteten neben ihr gestanden haben mochte, sondern vielmehr nach jedem, der Zugang zu bzw. das Wissen über Gift und die Möglichkeit zur Verabreichung gehabt haben konnte. Letztere lag in diesem Fall nicht auf der Hand, ersteren hatte er aber kaum zu verschleiern gewusst und es gab eindeutige Hinweise, nicht zuletzt in seinem Computer, deren Spuren zu beseitigen er leider nicht verstand,  denen zufolge er wochen- und monatelang nach verfügbaren tödlichen Giften, ihrer Dosierung und möglichen Verabreichungsformen recherchiert hatte. Und darüber hinaus machte es ihn sowieso total fuchsig, dass er sich zwar so um das Alibi gekümmert, Überstunden und Besuche bei unliebsamen Verwandten sowie in der heruntergekommenen Dorfkneipe in Stapelhorn in Kauf genommen hatte, und dieses nun alles für die sprichwörtliche Katz gewesen war, dass er sich in der Folge nicht nur sehr auffällig ver-, sondern mit seltsamen Andeutungen seinen Saufkumpanen gegenüber keinesfalls hinterm Berg hielt. Kurz gesagt: Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn zu überführen. So leicht, dass sich daraus noch keine gute Geschichte ergeben hätte, würde es dem zugehörigen Autoren nicht noch einfallen, einige ebenso vielversprechende wie falsche Fährten zu legen, bevor der einzig zurecht Verdächtigte angesichts der Beweisleist zusammenbricht, eventuell nach einer Geiselnahme oder einem Selbstmordversuch oder einer Geiselnahme mit anschließendem Selbstmordversuch und zu guter Letzt – denn wer will als Leser schon mit offenen Fragen in einem solch banalen Fall zurückgelassen werden? – gesteht.

Aber ohne Anfangsverdacht gibt es eben kein Geständnis, keine Geschichte, keine Novelle und erst recht keinen Kriminalfall, ja die Querulanten unter uns könnten sich nun sogar darüber streiten, ob es ohne Anfangsverdacht überhaupt zu einem Mord komme oder der Mord nur dann einer sei, wenn auch jemand wisse, dass er geschehe. Besserwisser könnten wiederum darauf verweisen, dass ja zumindest der Täter gewusst haben musste, dass es sich um Mord gehandelt hatte, sonst könne man schließlich nie und nimmer von Vorsatz sprechen, der für einen Mord bekanntlich noch zwingender notwendig sei, als der Anfangsverdacht. Aber der Mörder würde ja nicht gegen sich selbst aussagen und – wie nun Juristen einwenden würden – das müsse er auch nicht, womit er für uns alle – wie die Juristen weiter ausführen würden – als unschuldig gelten müsse, als was er ja aber sowieso gölte, zumindest für uns, da wird ja eben keinen Anfangsverdacht hegten. Und somit, müssten wir gestehen, ist der Fall für uns gelöst. Und das steht nicht mehr im Konjunktiv.

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