Die Blaumeise

Doctor Cornelius Alt, auf dessen Wirken unbestätigten Quellen zufolge das in heutigen Zeiten erstaunlich selten ausgesprochene, aber oft gedachte Wort „altklug“ zurückgehen soll, wunderte sich nicht mehr oft, umso mehr jedoch an jenem Nachmittag, als er bei dem ihm zur Gewohnheit gewordenen nachmittäglichem Gartenspaziergang eine gleichsam dickliche wie lebhafte Blaumeise auf einem der Rankenpfosten erspähte, die sein Gärtner entgegen seiner diesbezüglichen, ausdrücklichen Weisung dennoch an mehreren Stellen in den prosaischen Lehmboden eingeschlagen hatte, weil das zu tun „nu‘ eb’n Mode“ sei. Nun ist die Blaumeise ein recht heimischer Vogel. Nicht nur lebten schon ihre Vorfahren hier, auch die winterliche Südflucht lehnt sie normalerweise, anders als viele andere, bisweilen weit mehr geschätzte Heimgefieder, rundweg ab. Zwar gibt es auch touristisch umherziehende Blaumeisen, diese werden jedoch von den heimatverbundenen Kollegen zumindest schief angesehen, wenn sie im Frühling zurückkehren. Ein solches, dem steuerzahlenden Deutschen artverwandtes Naturell sollte ihr ein beträchtliches Ansehen bei teutonischen Ornithologen, Heimatvereinen und Nationalsozialisten eingebracht haben, wenn sie nur nicht so ein unscheinbarer und, manche würden sogar sagen, langweiliger Zeitgenosse wäre, der überdies auch noch in solcher Zahl vorzukommen scheint, dass man in ihm kaum das Individuum anzuerkennen geneigt ist. Dabei hat die Blaumeise ein gar plagenreiches Leben voller Arbeit, Not, Kälte und Gefahren vor und hinter sich. Ein Leben, das sie oder mich sicher längst dazu gebracht hätte, den halslosen Kopf in den Rachen der nächstbesten Hauskatze zu stürzen. Warum also wunderte sich der Doctor über dieses doch ansonsten ganz und gar unverwunderliche Bild? Es lag wohl in erster Linie an der ungewöhnlichen Kopfbedeckung des possierlichen Gartenbesuchers, denn die Meise trug einen kleinen Hut. Nun, für eine Meise war er sicher nicht sonderlich klein, vielmehr war er ihrer Größe vollkommen angemessen. Aus menschlicher Sicht sah dies freilich ganz anders aus und den Sachverhalt aus dieser Sicht zu betrachten, darum kam Herr Dr. Alt nicht herum. Lange stand er mit halb geöffnetem Mund da, dieweil die Meise emsig pickte. Es war ein gelber Hut mit schmaler Krempe – wer hatte ihr den wohl verschafft? Hatte sie ihn selbst aufgesetzt und wenn ja, wie? Cornelius fuhr sich durch die Reste seiner Haare und fasste schließlich den Entschluss, das ihm eigene, durch und durch profunde Weltbild, dessen integraler Bestandteil die rationale Erklärung aller diesseitigen Angelegenheiten war, nicht über eine Blaumeise oder ihren Hut ins Wanken geraten zu lassen. Er entfernte sich unauffällig und stellte seinen Gärtner zur Rede, von dessen Lauterkeit er keineswegs überzeugt war. Ulrich Harneke, so hieß jener Mann, hielt die Angelegenheit zuerst und zuvorderst für einen Jux. Als der alte Herr Doctor jedoch wild gestikulierend auf seiner Schilderung des Vorfalls beharrte, kam Ulli der Gedanke, Alt hatte wohl in letzter Zeit zu lange in der stickigen Luft seiner Bibliothek zugebracht. Noch dazu rauchte er neuerdings diesen widerlichen, ausländischen Knaster mit solcher Inbrunst, dass es in der Tobakspfeife nur so knallte. Wenn diese ehrliche Skepsis seines Bediensteten den Doctor auch von seinem ursprünglichen Verdacht abbrachte, der nichtsnutzige Gärtner habe arglistig einen Hut auf eine Meise und diese wiederum an einen der von Alt mehrfach beanstandeten Pfosten geklebt, so ärgerte er sich doch über jedweden Zweifel an der Glaubwürdigkeit seiner Schilderung seitens des ihm Untergebenen. Was ihm wohl einfiele, die Worte eines bei sämtlichen Honoratioren geschätzten Mannes, dessen Urteil stets viel gelte und der noch dazu seinen, Harnekes, Lohn – der angesichts der doch zugegebenermaßen eher nachlässig verrichteten Arbeit offensichtlich viel zu hoch sei – in Frage zu stellen. Diese grundsätzliche Kritik an seiner Arbeit sowie der hier offen zu Tage tretende Mangel an Respekt gegenüber seinen Diensten, veranlassten den Gärtner zu einigen Repliken, die hier aufgrund ihrer Derbheit nicht wiedergegeben werden sollen, zumal sie den Doctor in direkter Folge dazu anregten, nicht minder heftiges, nicht minder lautstarkes Contra zu geben, bis schließlich einer der inzwischen zur Gänze entnervten Nachbarn ein Fenster im zweiten Stock öffnete und sich seinerseits lautstark über das unchristliche Gelärme der beiden Störenfriede unter Anwendung eines Vokabulars beschwerte, das sich ebenfalls, keinesfalls gewaschen hatte. In Ihrer Wut und nun sogar noch mehr aufgebracht, dabei aber plötzlich auf einen gemeinsamen Feind vereint, begannen Alt und Harneke jetzt gemeinsam auf den Nachbarn einzubrüllen, der sich doch wohl zuallerletzt über Ruhestörungen beschweren könne, noch dazu unter Nennung des Namens Christi, alldieweil er sich nicht entdreistete, bei nächtlichen Zusammenkünften mit seiner Frau, deren Grobheit sich in ihrer dabei anhebenden Stimme nicht minder als in ihrem generellen Äußeren offenbare, nicht nur die Fensterläden nicht zu schließen sondern – man stelle sich das vor – sogar noch das Licht brennen zu lassen und der gesamten Nachbarschaft dadurch ein Schauspiel zu präsentieren, über das einem selbst nicht nur die im fortschreitenden Alter mühsam aufrechterhaltene Libido vergehe, sondern dessenthalben man sich außerdem genötigt sehe, dem Nachwuchs peinliche Fragen beantworten zu müssen, die man, wiewohl zweifelsfrei irgendwann, dann jedoch zweifelsohne lieber anhand anderem Anschauungsmaterial erklärt hätte. Vor dem nunmehr im Flug befindlichen und in ihre Richtung sich bewegenden Blumentopf des Nachbarn flüchteten sich die Verbündeten zurück in den Garten, wo zuerst Harneke wieder einfiel, weshalb die beiden, die drei, sich ursprünglich und überhaupt gestritten hatten. Die Meise saß nunmehr auf einem anderen Pfahl, stellte der Doctor sogleich fest, es schien sie also niemand dort drapiert zu haben. Der Hut wackelte fröhlich auf ihrem Kopf, während sie weiter emsig pickte. Auch Harneke staunte nicht schlecht. Nun beratschlagten sie, wie man sich die Sache einmal genauer würde ansehen können. Sie kamen überein, dass man der Meise habhaft werden müsse – nur wie? Cornelius wies Ulli dazu an, sich in Blickrichtung der Meise zu begeben und dort (aber in gebührendem Abstand, um nicht ihr Misstrauen zu erregen) wunderliche Hand- und Körperbewegungen auszuführen, um so die Aufmerksamkeit der Meise zur Gänze auf sich zu ziehen, behufs er, der Doctor, sich hinterrücks anschleichen und das Federtier akkurat ergreifen könne. Natürlich mit der nötigen Behutsamkeit, schließlich wolle er den kleinen Kameraden nicht verletzen, schien er doch ein recht außergewöhnlicher Vertreter seiner Art zu sein. Womöglich wäre es gar eine ganz eigene, neue Unterart, die fortan seinen, Alts, Namen tragen würde: Alt-Meise.

Jetzt wundert sich aber der Mensch vielleicht über eine Meise mit Kopfbedeckung, selbige wiederum findet einen Menschen, der Kniebeugen macht und sich dabei mit einer Hand an die Nase fasst, während er mit der andern ausladend winkt, keinesfalls interessant genug, um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. So wurde sie recht bald des weißharigen Ungetüms gewahr, das sich anschickte, von hinten auf sie zuzustürzen. Man kann es ihr nicht verübeln und natürlich interpretierte der kleine Fratz das Ansinnen des vergleichsweise schnell sich nähernden Herrn Dr. Cornelius Alt völlig fehl. Die Blaumeise flatterte flugs davon, ihren Hut nahm sie mit. Die beiden Menschen jedoch sahen ihr noch lange nach.

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{Der Kyniker

Als ich ein Hund war,
fühlte und redete ich wie ein Hund,
drehte im Kreis mich und jagte den Steiß,
da ich ein Hund war, nicht ich.
lachte ich nicht, drehte statt dem mich
um solchen Steiß und sah
nicht dass es gut war.}

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Herbsttag

Ob es nun am Licht oder Lichtraumprofil liegt, im Herbst werden ältere Damen und Herren gerne melancholisch. Literarisch hat sie ein breites Echo gefunden, diese Inventur des Jahres und der Jahre. Alles geht, alles kommt wieder hoch und will bedacht sein, zur Sprache gebracht werden. Plötzlich bekommt man Nachricht von Menschen gleichen Alters, die noch einmal sprechen wollen. Man ist selbst nicht abgeneigt. Dabei erkennt man recht schnell, dass es gut ist, über Vergangenes sprechen zu können. Besser jedoch ist es, über Vergangenes nicht mehr sprechen zu müssen. Man schlendert einfach nebeneinander durch die Alleen und schaut durch die Lücken im Lichtraumprofil. Wer jetzt zufrieden ist, kann es lange bleiben.

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Intro

In tiefer Höhle einst lag einsam ein Mann angebunden,
Mit müden Augen er sah auf ein flackerndes Bild,

Sie wissen sicher doch schon, wen die Story behandelt?
Schnell nun den Hörer herbei! Los, jetzt rufen Sie an!

Nur eine Hand war ihm frei, um die Kanäle zu wählen,
Technik! Zum Surfen sogar, dazu taugte das Ding,
Sah alle Filme der Erde, lernte die Welt dadurch kennen,
Vieles las er im Netz, nichts blieb dem Menschlichen fremd,
Wissen saugte er auf, keines ließ er aus den Augen,
In den Sinn stieg er ein, wusste bald alles und mehr,
Schnell schon war er bekannt, sie kamen von allüberall
her und setzen sich zu dem Gebundenen,
stellten ihm Fragen, sie hörten
was er zu sagen hatte, von den Dingen
und was sie bedeuten, die Eigenheiten,
Eitelkeiten – Schattenseiten.
Munter machte man’s, gemütlich.
Leute gab’s hier, die mit bunten
Fähnchen den Saal dekorierten,
Es florierten die Kleinkünste und neben der Tür
zapfte man Bier.
Sie war eine Wonne,
fernab jeder Sonne,
die Hölle dort unten
und keiner kam je mehr herfür.

Sie war eine Wonne,
fernab jeder Sonne,
die Hölle dort unten
und keiner kam je mehr herfür.

(Entnommen aus „Klagelieder“)

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Amt

Sie tickte so laut und so regelmäßig ihr tick und ihr tack, dass sonst kaum etwas in diesem Raum so wunderbar in die Szenerie hätte einführen könne, wie diese Uhr. Es war eine große, runde Uhr und sie hing an der Seitenwand über einem Registerregal, auf dem ein Foto mit irgendeiner sonnigen Kulisse hinter sich umarmenden Menschen stand. Einer dieser Menschen schaute mich missmutig an. Ich wippte auf dem Stuhl vor und zurück, dabei betrachtete ich den Kugelschreiber in meiner Hand, den Schriftzug darauf. Früher hatte das noch Wohlfahrt geheißen, aber wahrscheinlich brachte man das besser nicht mehr zur Sprache.“Also?“ wurde ich gefragt. Ich erklärte, dass ich nun, ja wahrscheinlich wohl wohnungslos sei und anfragen wolle, bis wann ich eine neue Unterkunft würde beziehen können. Man sah mich verständnislos an. „Sie sind also akut wohnungssuchend?“ fragte man nach einer kurzen Bedenkzeit. Ich verstand die Frage nur teilweise, gab an, kein großes Aufhebens machen zu wollen, akut sei ich in keiner Hinsicht, aber ein Zimmer, vielleicht ein Bett, zumindest ein Tisch darin, das müsse man mir doch zugestehen, schließlich müsse man doch leben können. Es folgt eine Pause. „Soll das ein Witz sein?“, fragte man mich. Ich lachte zustimmend, als hätte ich die Frage verstanden. Es folgte eine Pause. „Sagen Sie, haben Sie getrunken?“ Was das nun für eine Rolle spiele, fragte ich darauf, ich habe um eine Auskunft gebeten, insistierte ich und „wenn ich richtig informiert bin, sind sie verpflichtet, mir diese zu erteilen, ob ich nun getrunken habe oder nicht!“ Man war inzwischen etwas von mir zurückgerückt, wahrscheinlich war meine Antwort zorniger verstanden worden, als ich sie hatte sagen wollen. Ich schämte und entschuldigte mich umgehend. Man schob den Stuhl wieder an den Schreibtisch. „Wie haben Sie denn Ihre Wohnung verloren?“ Man sei bei mir eingebrochen, entgegnete ich, alle meine Habe hätten sie gestohlen und mich anschließend mit Nachdruck dazu aufgefordert, zu gehen. Der letzte Teil schien zu verwirren, denn da war schon wieder eine Pause. „Es wurde also bei Ihnen eingebrochen? Dann müssen wir die Polizei verständigen!“ Die wisse schon davon, entgegnete ich ruhig, schließlich habe sie die Tür ja selbst aufgebrochen.

(entnommen aus „Geschichte“)

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