Der hässliche Deutsche

Jeder kennt dieses Foto von Harald Ewert. Es zeigt ihn, bekleidet mit dem Weltmeistertrikot der Nationalmannschaft über eingenässter Jogginghose, beim Hitlergruß. Ewert behauptete Zeit seines Lebens von sich, er sei kein Nazi und den Fleck bereue er sehr.

Entstanden ist dieses Foto Ende August 1992 bei den Ausschreitungen von Rostock auf dem Höhepunkt der Asyldebatte und zum Auftakt einer ganzen Serie von fremdenfeindlichen Mordanschlägen in Deutschland. Vor dem „Sonnenblumenhaus“ in Lichtenhagen hatte sich eine johlende Menschenmenge aus Anwohnern und Zugereisten eingefunden, um die Polizei und Feuerwehr davon abzuhalten, ein mit über 100 Menschen besetztes Wohnheim zu beschützen. Unter dem Applaus der Umstehenden wurde es in Brand gesteckt. Es dauerte Stunden bis die eingeschlossenen Menschen aus dem brennenden Gebäude gerettet werden konnten. CDU-Ministerpräsident Bernd Seite sagte einige Tage später, die Politik müsse nun dringend handeln – nicht etwa um derlei Ausschreitungen in Zukunft energischer zu unterbinden, sondern „weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird“. Es folgte eine Änderung des Grundgesetzes und eine drastische Verschärfung des Asylrechts. Der johlende Mob hatte gesiegt. Man nahm die Sorgen der Brandstifter ernst. Das Wohnheim wurde aufgegeben.

Jeder kennt mittlerweile die entlarvenden Interviews mit PEgIdA-Demonstranten, die zwischen all den offen fremdenfeindlichen Parolen allerdings nicht müde werden zu betonen, sie seien keine Nazis. Bei ihnen handelt es sich weder um Jogginghosen- noch um Nadelstreifenträger. Sie skandieren: „Wir sind das Volk“, und erstaunlich viele Politiker sowie Medien- und Meinungsvertreter sind geneigt, ihnen zuzustimmen. Man dürfe diese Leute nicht pauschal verurteilen und müsse ihre Sorgen ernstnehmen, fordert beispielsweise Thomas de Maizière.

Ich muss mich schon fragen, wie ich jemanden ernstnehmen soll, dessen Sorge nach eigenen Angaben darin besteht, in 20 Jahren kein Weihnachten mehr feiern zu dürfen oder dann dazu in „die Moschee“ gehen zu müssen, weil „der Islam“ bald „Staatsreligion“ sei. Welchen Bezug zur Realität haben diese Leute eigentlich? Warum demonstrieren sie gerade dort gegen „Islamisierung“, wo es kaum Muslime gibt? Warum fordern sie die Ausweisung von Ausländern, wo es kaum Ausländer gibt? Warum fürchten Sie die Abschaffung von Weihnachten, wo doch ein Großteil von Ihnen konfessionslos ist?

Die Antworten auf diese Fragen kann man nur mutmaßen, denn obschon die Sympathisanten dieser Protestbewegung durchaus lautstark wirken, so sind sie doch alles andere als auskunftsfreudig. Die Medien gelten ihnen als manipulativ, der Politikbetrieb ist für sie eine einzige Verbrecherbande. Dementsprechend äußert sich auch ihr Protest, der keine ernsthafte Forderung formuliert und keine konkrete Änderung verlangt. Was erhoffen sich die PEgIdA-Anhänger eigentlich? Wohl nur, dass „es“ immer schlimmer wird, denn davon sind sie ja schon längst überzeugt.

Sie gerieren sich als diffamierte und unterdrückte Minderheit, die nichts anderes mehr tun könne, als ihre Wut auf die Straße zu bringen. Die Politik ignoriere sie und die Medien würden ihre Argumente nicht gelten lassen. Stimmt das? Ja, das stimmt, denn ihre Argumente sind hinreichend widerlegt: Zuwanderer bringen diesem Land mehr Geld ein, als sie es kosten. Ohne diese Zuwanderung würde Deutschland auf eine wirtschaftliche und demographische – kurz gesagt auf eine gesamtgesellschaftliche Katastrophe zusteuern und obschon das Land seit Jahrhunderten ein Zuwanderungsland ist, feiern wir noch immer Weihnachten und müssen dazu weder in die Moschee noch in die russisch-orthodoxe Kirche gehen.

Es sind nicht die Argumente von PEgIdA, die nicht wahrgenommen werden, es sind auch nicht die Sorgen der Sympathisanten, die nicht ernstgenommen werden. Es sind ihre Ressentiments, die von der Mehrheit der Gesellschaft nicht geteilt werden. Auf mehr als purem Ressentiment fußt diese Bewegung nicht. Von „besorgten Bürgern“ zu sprechen ist deshalb ein durchschaubarer Euphemismus, der entsprechenden Politikern nur dazu dient, die rechte Klientel in der eigenen Wählerschaft nicht vollends zu vergraulen. Zwar traten auch in den letzten Jahren immer wieder Politiker mit markigem Populismus auf („Wer betrügt, der fliegt“), doch diese offenkundig lächerlichen Positionen taugen mittlerweile nur noch für bayrische Bierzelte und sonstige Querulantenstammtische. Mehrheitsfähig sind diese Positionen, anders als in den 90ern, lange nicht mehr. Auch wenn Thilo Sarrazin mit seinen Büchern regen Absatz findet, so hat er doch nicht viel mehr als ein Parteiausschlussverfahren erreicht.

Die Mehrheit ist f ü r Zuwanderung, auch die schweigende. Und das ist wohl das eigentliche Phänomen, das den PEgIdA-Demonstranten Sorgen bereitet: Sie gehören zu einer aussterbenden Rasse, zu den wahrhaft „hässlichen Deutschen“, den rassistischen, fremdenfeindlichen, homophoben und chauvinistischen Ewiggestrigen. Ihre „Argumente“ werden eben deshalb nicht mehr berücksichtigt, weil es bloße Beleidigungen sind und zwar sowohl von einigen Volksgruppen als auch des menschlichen Intellekts an sich. Auf der Grundlage von Beleidigungen lässt sich keine politische Debatte führen. Es ist deshalb auch unmöglich, mit diesen Menschen ins Gespräch kommen zu wollen. Diese Leute wollen nicht debattieren. Sie wollen ihre beleidigenden Vorurteile wieder äußern dürfen, ohne dass ihnen widersprochen wird – aber man muss diesen Leuten widersprechen und man widerspricht ihnen. Eigentlich ist das eine Erfolgsgeschichte. Anders als in den 90ern, als Nazi-Skins im Namen der „schweigenden Mehrheit“, die sie zu vertreten glaubten, Wohnheime anzündeten, befinden sie sich nun ganz offensichtlich am rechten Rand der Gesellschaft. Es müssen nicht erst Wohnheime brennen, damit Rechte auf massiven Gegenwind stoßen. Sie sind nicht mehr salonfähig, sie sind nicht einmal mehr kneipenfähig. Und das ist auch gut so.

Es ist zwar immer noch so, dass etwa 20% der Bevölkerung fremdenfeindliche und teilweise sogar faschistische Positionen vertritt. Diesen relativ konstanten Anteil gab es, gibt es und wird es geben. Aber diese Gruppe hat massiv an Einfluss eingebüßt. Diese Gruppe prägt nicht mehr die Debatte und die Politik des Landes mit. Sie spielt im Grunde überhaupt keine Rolle mehr, außer vielleicht die des Schreckgespenstes. Dass aber ihre rechten „Argumente“ und Positionen widerlegt und unerwünscht sind, hat sie keinesfalls zum Umdenken gebracht. Im Gegenteil bringt es sie dazu, sich weiter zu radikalisieren. Da sie in der Politik (abseits der AfD) nicht mehr gehört werden, haben Sie sich von der Politik abgewandt. Da sie in den Medien (abseits der Bild) nicht mehr kommentarlos ihre Ressentiments äußern können, haben sie sich von den Medien verabschiedet. Eigene Internetforen und Facebookgruppen – also Gleichgesinnte – bieten ihnen die einzige Plattform, auf der sie sich noch äußern können. Dort kochen sie im eigenen Saft ihr weltverschwörerisches und deutschtümelndes Süppchen, das zwar zum echten Ladenhüter geworden ist, aber keinesfalls an Gefahrenpotential eingebüßt hat.

In Lichtenhagen, in Solingen, in Mölln waren es keine 15.000 Menschen, sondern zumeist nur einige hundert Radikale, die Wohnheime angezündet und Asylanten bei lebendigem Leib verbrannt haben. Solche Radikalisierung muss man verhindern. Man verhindert sie aber keinesfalls, indem man wieder auf die „Ausländer raus!“ Rufenden zugeht und Rücksicht auf ihre fremdenfeindlichen Gemütslagen nimmt. Eben das hat in den 90ern dazu geführt, dass sich kleine Gruppen von Nazis als Vorkämpfer der „schweigenden Mehrheit“ gesehen haben. Das waren sie nicht, das sind sie nicht. Aber sie haben ja Recht bekommen, denn was auf ihre Taten folgte, war Verständnis seitens der Politik und eine massive Einschränkung des Asylrechts.

Nach Lichtenhagen, Solingen und Mölln haben Politiker einige hundert Radikale als Vorwand genutzt, die politische Kultur in unserem Land weit nach rechts driften zu lassen. Auch jetzt werden wieder Stimmen laut, denen zufolge die Politik dieses Landes zu „links“ und selbst die CDU zu sehr in der „Mitte“ ist. Sie solle mehr rechte Positionen einnehmen, um solche Menschen wieder einzubinden. Was da gefordert wird, ist nichts anderes als die erneute Akzeptanz rechter Pöbeleien, fremdenfeindlicher Parolen und letztlich auch der rassistischen Gewalt, die immer daraus folgt. Dieses Manöver muss man durchschauen und verhindern. Und wer es unternimmt, der sollte sich schämen.

Veröffentlicht unter aktuelles, medienkritik, Politik im Fokus, Zur Sache selbst | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Ein Kommentar

Geschichte

Als sie die Tür aufbrachen, saß ich gerade beim Essen gegenüber der Tür. Man stellt sich das immer spektakulärer vor, als es dann wirklich ist. Mit einem Stemmeisen hoben sie den Sperrriegel aus seiner Fassung, während ich mein graues Brot aß. Die Tür splitterte kaum dabei. Ein lautes Knacken und sie sprang auf. Ein paar Macken an den Zargen, das war alles. Schnell standen sie mitten in meiner Wohnung und sahen sich um. Ich kaute noch immer, schluckte, und legte das Brot auf den Teller. Sie mussten sehr lange, sehr laut geklopft haben.

Ich weiß noch, dass ich dagesessen und über eine Geschichte nachgedacht hatte, die mir jemand einmal erzählt haben musste. Ich konnte mich jedoch nicht mehr daran erinnern, ob Sie von mir gehandelt, ob ich überhaupt eine Rolle darin gespielt hatte. In der Geschichte ging es um einen Mann, der viel schlief, der das Zimmer, in dem sich sein Bett befand, kaum mehr verließ und der solange schon nicht mehr mit einem anderen Menschen gesprochen hatte, dass ihm selbst die Stimme in seinem Kopf, mit der er sich seine Monologe vorsprach, fremdartig erschien. Diesem Mann ging es gut. Solange er ein Bett hatte, solange er auf dem Rücken liegen konnte – kurz: solange ihn niemand störte, ging es ihm gut.

– – –

Ich weiß noch, dass die Geschichte mir gefiel, denn es war eine ehrliche Geschichte, vielleicht sogar wahr. Jedenfalls steckte mehr Wahrheit darin, als in allem, was ich an Geschichten geschrieben hatte. Der Mann hatte einmal etwas Geld gehabt, woher auch immer er es bekommen haben mag, es war seins und es reichte eine Weile vor. Danach ging man zuerst davon aus, dass er wohl noch mehr haben müsse, jedenfalls gab man ihm gerne Kredit. Er brauchte ja nicht viel. Selbst als die letzte Zahlung längst vergessen war, geduldete man sich weiter mit ihm, schließlich störte er doch niemanden. Und ehrlich gesagt glaubte man kaum, dass es noch lange dauern könne, mit ihm. Schweigsam, einsam, wie er war. Doch es ging nicht zu Ende.

Und so schlief der Mann weiter, schwieg weiter. Ich weiß noch, dass er fast glücklich war. Nicht weil jemand viel für sein Glück getan hätte. Und doch, es taten sehr viele Menschen sehr viel nicht für ihn und das war sein Glück. Sie redeten nicht mit ihm, sie weckten ihn nicht. Sie ließen ihn schweigen, ließen ihn auf dem Rücken liegen, schlafen und so blieb er ungestört. Irgendwann dachte niemand mehr an Zahlungen, den Kredit, niemand mehr an sein Zimmer, das ja um eine Rendite zu erbringen gebaut worden war und für dessen Heizung, Elektrizität und Instandhaltung jeden Tag weitere Kosten anfielen.

Man stellte ihm den Teller wortlos vor die Tür und nahm ihn leer wieder weg, einfach deshalb, weil man es immer getan hatte. Reste gab man dem Hund. Daran erinnere ich mich gut, denn das sind diese Geschichten, an die man denkt, wenn man daliegt und nicht schlafen kann. Wenn einem nichts bleibt als diese Geschichten, die sich selbst erzählen, damit man nicht ins Denken kommt. Andere bilden sich Schenkel ein, ich mir Worte: Wassersucht, Herzkranzgefäß. Aber auch Geschichten wie die über diesen Eisenbahnarbeiter um die Jahrhundertwende, dem bei einem Unfall ein daumendickes Eisenrohr durchs Gehirn getrieben worden war. Er überlebte das, unvorstellbar, oder? Seine Version der Geschichte hätte ich gerne einmal gehört. Wenn man eine Hirnblutung hat, riecht man angeblich Dinge, die gar nicht da sind. Der Mann in seiner Kammer hätte wohl niemanden nach unüblichen Gerüchen fragen können, für ihn war jeder, außer dem eigenen, völlig fremd geworden. Hätte er mit jemandem gesprochen, so hätte der ihm wahrscheinlich gesagt: „Müde, du siehst sehr müde aus“ – und was hätte er darauf antworten sollen? Er schlief doch schon, soviel er konnte.

– . –

Und da ist es mir aufgegangen, dass die Geschichte nicht stimmig ist, meine ist, Ihre nicht, die Frau gestern an der Kasse, Theresienstadt, die große Storyline. Das ist nicht kohärent und passt nicht zusammen. Da fallen die Referenzen aus dem Rahmen. Die Leute standen in meiner Wohnung und sogen unter merklichem Unbehagen die Luft ein. Mir war das peinlich, denn es gab in dieser Wohnung nichts, was hätte riechen können. Es gab nur mich. Mein Geruch war mir nicht unangenehm aufgefallen, man riecht sich selbst wohl anders. Sie sagten etwas zu mir, aber ich verstand es nicht. Also die Worte verstand ich schon, den Sinn jedoch nicht. An den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern. Ich saß nur da und blickte auf meinen Teller. Das Brot war trocken und sonst konnte ich ihnen nichts anbieten. Dabei hatte ich doch mit ihrem Eintreffen gerechnet. Was hatten sie nur nochmal gesagt? Ich verliere den Faden, das hatten sie gesagt, oder jedenfalls etwas ähnliches. Den genauen Wortlaut möchte ich lieber nicht wiedergeben. Ich bat sie darum, ein anderes Mal wiederzukommen, sie kämen mir gerade sehr ungelegen, da ich beim Essen säße und eigentlich gleich duschen wolle. Da lachen sie. Ich fühle mich nicht wohl, werde ich gestammelt haben, oder: „Es ist nicht meine Schuld.“ „Na wessen sonst“, sagen sie. Darüber musste ich wohl selbst erst einmal nachdenken. Vielleicht ist niemand schuld, denke ich. Vielleicht wäre das möglich. Aber das konnte ich nicht sagen. Ich erzähle ihnen lieber die Geschichte, die ich mir selbst immer wieder eingeredet hatte. So überzeugt, wie ich von ihr war, müssen sie die einfach glauben. Und das taten sie, also sie glaubten zwar die Geschichte, aber sie folgen ihr nicht, messen ihr keinerlei Bedeutung zu. Sie fingen einfach an, alles einzupacken. Die Bücher, die Teller, die Kissen. Und Ich? Ich sah, wie ich aufstand und ging. Was bleibt mir anderes übrig?

– – –

„Geht es ihnen gut?“, fragte mich der Mann. Ich nickte. „Aber nicht sehr gut, oder?“ Darauf fiel mir zunächst nichts ein – ich zögerte. „Ah, das ist schön, wenn es einem nicht zu gut geht. Menschen, die wahnsinnig werden, sterben oder sich umbringen wollen, denen geht es kurz vorher meistens viel besser als sonst. Richtig beschwingt sind die dann plötzlich, da muss man stutzig werden. Solange sie noch leiden, muss man sich keine Sorgen machen. So lange ist noch alles gut.“ Er lachte. Ich lächelte und nickte, stellte auch ihm die Frage nach seiner Befindlichkeit. Das war nur höflich. „Sehr schlecht!“, rief er und sein Lachen hallte in der Straße wider. „Was wollen sie mir eigentlich verkaufen?“ Nichts, sagte ich, ich sei kein Verkäufer. „Aber was machen sie dann hier?“ Ja, was machte ich hier? Darauf erzählte ich ihm meine Geschichte, versuchte es zumindest. Reihte die Begebenheiten aneinander, wahrscheinlich in chronologischer Abfolge. „Haben Sie eigentlich eine Frau?“ schnitt er mir kalt ins Wort. Diese Frage verstand ich nicht so recht. Pause. „Ich will ihnen einmal eine Geschichte erzählen, die ich so erlebt habe. Eines Tages kommt ein guter Freund zu mir und erzählt mir von einer Reise, die er mal gemacht hat. Markus, sagte er zu mir, das hättest du nicht geglaubt, was die da auf dieser Insel für einen Umstand um die Hochzeit gemacht haben. Eine ganze Woche wurde gefeiert. Zwei große Ochsen haben die geschlachtet, alles voller Blut, die rieben sich sogar damit ein, gegenseitig. Und dann wurde gesoffen, so eine Art, ich weiß gar nicht woraus die diesen Fusel gemacht haben, wahrscheinlich irgendwelches vergorenes Palmobst, mit Zuckerrohr gesüßt, vergoren, knallt! Jedenfalls eine ganze Woche wurde da gefeiert und jeden Tag getanzt. – Das muss man sich mal vorstellen!“ Ich musste es mir vorstellen. „Und wenn man beim Tanzen etwas falsch machte, dann stand gleich die nächste Hochzeit an.“ Sein dumpfes, lautes Lachen zog die Blicke der Leute auf sich. Das war mir unangenehm. Seine rote Nase zuckte. „Riechen sie das auch?“, fragte er. Natürlich, antwortete ich. Er setzte sich und schwieg, schien den Faden verloren zu haben, nachzudenken. Aus Höflichkeit sah ich mich gezwungen, ihm eine Frage zu der Geschichte zu stellen. Ob sein Freund denn auch verheiratet worden sei? „Woher soll ich das wissen?“, antwortete er „ich war ja nicht dabei.“

– . –

Wenn man es könnte, würde man seine Augen nach innen verdrehen, habe ich mir oft gedacht. Aber das war Wunschdenken. Ich bestellte mir erst einmal einen Schnaps. Der Wirt sah mich vorwurfsvoll an. „Und einen Kaffee“, ergänzte ich hastig. Nicken. Wahrscheinlich hätte einen besseren Eindruck machen sollen, dachte ich, murmelte ich vielleicht.

Da saß dieser Mensch vor dem Café, wahrscheinlich ein Mädchen, vielleicht eine Frau. Sie saß da und blinzelte direkt in die Sonne hinein. Ein breites Lächeln. So als wären alle Tage gut, wenn nur die Sonne schiene und so als würde sie nach jedem Regenschauer bald wieder scheinen.  Ich fragte sie, ob sie irgendeinen Defekt habe. Dann schlug sie mir ins Gesicht und ging.

Nach einigen Schritten machte sie kehrt und kam zu mir zurück. „Was soll das überhaupt heißen?“, fragte sie. Damit setzte sie sich zurück vor ihren Kaffee. Ich hielt mir das Gesicht. Sie deutete mir, mich zu setzen. Ich zögerte, doch sie beharrte in ihrer Geste. Als ich mich setzte und den Schnaps in meinen Kaffeebecher schüttete, zog ich mir dadurch ihr Missfallen zu, ganz offensichtlich. „Ist es nicht noch etwas früh?“, fragte sie und legte dabei ihre Stirn in vorwurfsvolle Runzeln. Nach einer Weile konnte ich mich noch immer zu keiner klaren Antwort durchringen, redete wohl etwas von Relativität und Schichtarbeitern. Dinge, die man eben zur Sprache bringt, wenn man nicht wirklich etwas zu sagen und keine Uhr bei sich hat. Sie rührte in ihrem Kaffee, die Stirn war nicht weniger runzelig geworden. „Verdient man denn gut, so als Schichtarbeiter?“, fragte sie plötzlich in mein Stammeln hinein.

„Man kann davon leben“, stieß ich hervor. Zwar wusste ich es nicht, aber leben musste man doch davon können, alles andere wäre unlogisch gewesen. Mit der Antwort schien sie zufrieden, zündete sich eine Zigarette an. Sie raucht also. Mein Kaffee war schon fast kalt, als ich daran nippte. Die Leute gingen an uns vorbei, während wir dasaßen und sie betrachteten. „Du solltest dich mehr mit der Realität beschäftigen… Das täte dir gut.“ Damit hatte sie vielleicht Recht. Anerkennend klopfte ich auf den Tisch. „Aber das sagt sich so leicht“ „Alles sagt sich leicht.“ „Ja, aber damit ist ja noch nichts geändert.“ „Aber ein Anfang gemacht.“ „Wenn man so will, ja.“ „Ja, genau.“

Als ich aufschreckte, war neben mir nur noch ein Aschenbecher, ein Zigarettenstummel darin. Ich rieb mir das Gesicht. In der Tür stand der dickbäuchige Wirt und hielt mit der, seinem Beruf eigenen Selbstverständlichkeit ein Tablett, leer, nein, mit der Rechnung darauf. Er schaute mich an, wie es eben nur ein Wirt kann. Mit eindeutiger Geste bedeutete ich ihm, mir noch einmal das gleiche zu bringen. Zurück konnte ich ja nicht.

Veröffentlicht unter Autopoiesis, Experimentelle Metaphorik, Marginalien, Postpeotik | Verschlagwortet mit , , , , , | Schreib einen Kommentar

intransitiv

Der Strick machte ein knartschendes Geräusch, als er zweimal kräftig an ihm zog. Der war fest. Das war sicher. Er konnte zwar auf dem großen Dachbalken etwas nach links und rechts rutschen, aber das pendelte sich schon ein, bestimmt, dachte er. Auch die Höhe passte. Es würde nicht schön sein, aber klappen, mit Sicherheit. Zufrieden setzte er sich auf die alte Holzkiste und zog den Brief aus der Tasche. Den wollte er auch schon vor sich auf den Boden legen, dann kamen ihm jedoch Zweifel. Er öffnete den Umschlag und las das Schreiben doch noch einmal durch. Fast ein Dutzend Male hatte er es bereits gelesen – lang war es ja nicht, aber wichtig. Er las nochmal, nur zur Sicherheit. Zufrieden blickte er auf das letzte Wort. Das war gut, das hallte nach. Es würde seine Wirkung mit Sicherheit nicht verfehlen. Er lächelte. Dann schob er das Schreiben zurück in den Umschlag, doch dabei sprang ihm ein anderer Begriff ins Auge. Für den Brief war dieses Wort nicht ausschlaggebend, deshalb hatte er beim Schreiben nicht weiter darüber nachgedacht, für den ganzen Vorgang war es jedoch von zentraler Bedeutung. Mit zusammengekniffenen Augen sprach er es leise vor sich hin: „aufgehangen … aufgehangen…“ Das klang irgendwie falsch. Das klang irgendwie nach Wäsche, einem Handtuch oder einer Jacke. Passte das? Das konnte nicht stimmen, mit Sicherheit nicht. Er dachte nach, dachte „aufgehängt!“ – das musste es sein. Aber passt denn das wirklich besser? Das klang so nach einem Bild. Natürlich könnte man die Formulierung auch einfach umgehen, aber er müsste doch wohl dazu im Stande sein, diesen einen Satz richtig zu schreiben, so wie er war. Während er im Kopf Beispiele durchging, starrte er auf das Papier. Er fand es nicht. Wütend sprang er auf, knüllte den Brief zusammen und warf ihn mit Wucht in die nächste Ecke. Dann kam er wieder zu sich. „Und jetzt?“ Wortlos konnte er doch nicht gehen, ohne Erklärung war das nicht zu machen. Zu viele offene Fragen würden bleiben, zu viele Unsicherheiten würde er hinterlassen. So konnte er nicht abschließen. Der zerknüllte Zettel lag unweit von ihm in einer schmutzigen Ecke. Da er sich bücken musste, um ihn aufzuheben, stieß er sich den Kopf hörbar an einem Balken an. Er fluchte laut. Von unten drang eine fragende Stimme. Wie ertappt schaute er auf seine Uhr. Sie musste bereits nach Hause gekommen sein. Sein Blick fiel auf den Strick mit der verräterischen Schlinge, dann auf die alte Kiste darunter. Er hörte bereits ihre Schritte auf der knartschenden Treppe. Schnell trat er die Kiste weg, warf den Strick zurück über den Balken und versteckte ihn dort. Er setzte ein Lächeln auf, als sie die Tür öffnete. „Ich hab Geräusche gehört – was machst du denn eigentlich hier oben?“, fragte sie. „Mir den Kopf stoßen“, sagte er. Sie sah ihn wortlos an.

Veröffentlicht unter Autopoiesis, Marginalien | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Betreff: Liebe

Sehr geehrte Frau Hase,
Hiermit teilen wir Ihnen mit,
Ihrem Antrag geben wir statt.
(Vorbehalts des neuronalen Gutachtens)
Mit Ende das laufenden Kalendermonats,
Wird unsere Beziehung restrukturiert,
Und forthin „Liebe“ produziert.
MFG
I.A. Lose

Widerrufsbelehrung:
Innerhalb von 14 Tagen,
Nach Erhalt dieses Schreibens,
Können Sie an zuständiger Stelle,
Widerruf einlegen, ansonsten
Wird Ihr Einverständnis,
betreff des Sachverhalts,
als tatsächlich,
angenommen.

Anhang: Kostenvoranschlag

Veröffentlicht unter Experimentelle Metaphorik, in aller Kuerze | Verschlagwortet mit , , , , , | Schreib einen Kommentar

Anderntags

Anderntags fanden wir also unseren Freund und Protagonisten dabei vor, wie er gerade im Begriff war das Geschirr abzuwaschen und dabei über seine Geschichte ins Nachdenken geriet. Er hatte schon den Lappen in die Hand genommen, als ihm plötzlich auffiel, dass sie ziemlich eindimensional war. Es fehlte der wirkliche Widerpart, das treibende Moment.  Ein wenig war es so, wie bei den literarischen Hunden Kafkas und Hoffmanns, dachte er zwischen Gläsern und Tellern. Da fehlte etwas und außerdem war die Perspektive ganz schief. Nun, nicht dass die meisten Menschen weniger eindimensional wären oder geradere Perspektiven hätten. Er schaute durch ein milchiges, mit Fingerabdrücken übersätes Glas. Im Gegenteil, kaum jemand verfolgte mehrere Ziele, die meisten hatten überhaupt kein Ziel. Aber sie würden doch angetrieben, trafen sich an öffentlichen Orten und stritten, redeten zumindest miteinander. Das waren vielleicht nicht immer sehr hochtrabend Themen oder dramatische Dialoge. Alles aber, was er zu bieten hatte, waren wohlfeile Betrachtungen zwischen Abwasch und Arbeit. Die sind ja noch uninteressanter! dachte er beim Abtrocknen. Eloquenz ist nicht gerade interessant und den meisten Menschen eher unangenehm. Ein bisschen so, wie ihm literarische Kängurus unangenehm waren, wenn er sie auch vielleicht nur besser hätte kennenlernen müssen, dachte er und schloss die Hängeregaltür. Ich bitte Sie, Kängurus… Zum Bildungsroman fehlten ihm jedenfalls der Mignon und die dreiste, dralle Frau. Er sann nach. Vielleicht reichte es ja für eine Parodie? Die meisten Leute lernten Topoi und Motive heute doch sowieso nur noch in Form von Parodien – wie bei Family Guy – oder durch Zweitverwurstungen wie den Herrn der Ringe bzw. Wagners Opern kennen. Er stopfte sich seine Pfeife und zündete ein Streichholz an. „Eine Parodie?“ paffte es zwischen seinen Zähnen hervor. „Dass ich nicht lache…“

 

Veröffentlicht unter Marginalien, Selbstbehauptung | Verschlagwortet mit , , , , | Schreib einen Kommentar