7. Fassadenwechsel

Zwei Reihen vor ihm standen sich vier Sitze gegenüber. Zwischen ihnen war ein Tisch, auf dem eine großbuchstabige Zeitung von drei Dosen Bier umstanden wurde. Unter dem Tisch befanden sich sechs dicke, unruhige Beine. Siel sah hinaus auf die vorbei ziehende Landschaft, deren Weite ihn schon immer fasziniert hatte. Egal wie oft man so eine Strecke fuhr, man konnte sich doch an kaum einen Punkt dort draußen erinnern. So dachte Siel. Die laut geführten Gespräche um ihn herum waren ähnlich beiläufig. Irgendwo weiter hinten beschwerte sich jemand über im Gang abgestelltes Gepäck mit den Worten: „Da sieht man‘s doch wieder! Armes Deutschland sag ich nur!“ „Armes Deutschland…“, dachte Siel, ohne es weiter zu bemerken. Er blickte auf. Wie lange mochte er nun schon unterwegs sein? Bald musste er ankommen, das Panorama draußen wurde nun schon seit geraumer Zeit flacher und dunkelgrüner. Er war sich gar nicht sicher, was er sich von seiner Ankunft erwartete, welchen Gesichtsausdruck sie hervorbringen würde, welchen er.
Siel trank die Flasche aus und steckte sie zurück in seinen Rucksack. Auf dem Klapptisch lag eines kleines Büchlein, „Nachtwachen“ von Bonaventura. Einige Zeilen waren unterstrichen. „Wir Nachtwächter und Poeten kümmern uns um das Treiben der Menschen am Tag in der Tat wenig.“ Sah er sich um, so sah er ein, warum. Im vorderen Teil des Waggons ermahnte eine Frau zwei Kinder, sich nicht länger zu schlagen. Das würde ihr gefallen, dachte Siel, und schrieb ein paar Zeilen in sein Büchlein. Dessen war er sich nicht mehr so sicher, als sie erst vor ihm stand. Freundlich sah sie ihn an, doch irgendetwas war anders geworden. Ihr Haar nicht, ihre Augen vielleicht? Sie gaben sich die Hand und verließen den Bahnhof.
Obwohl Siel eigentlich damit aufgehört hatte, bat er sie um ihren Tabak. Während er sich eine Zigarette drehte, betrachtete er das Zimmer. Es war unverkennbar ihres. Alles passte, sehr vieles wirkte dabei völlig fremd auf ihn – so, wie er es gewohnt war. Siel blies Rauchschwaden aus und betrachtete sie, während sie an ihrem Rechner saß und unermüdlich mit der Maus herum klickte. Sicher wieder eines dieser blödsinnigen Geschicklichkeitsspiele, dachte Siel. In der Küche hörte man ihre Mitbewohnerin die Waschmaschine entladen. Siel legte sich auf den Rücken, nippte umständlich an seinem Wein und musste leise lachen.
„Lachst du mich schon wieder aus?“
Sie hatte sich umgedreht.
„Nicht nur“ antwortete Siel.
Sie warf ein Radiergummi nach ihm.
Er hatte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal aus dem Fenster gesehen. Nun wurde es bereits Abend. Als Siel darüber nachdachte, worüber man vielleicht reden könnte, fiel ihm nichts ein. Ihm fiel überhaupt nichts ein. Er vermochte nur dort zu liegen und sich umzusehen. Alles um ihn herum sah so harmonisch aus, fast wie aus einer anderen Welt. Es gab hier nichts, das ihn beunruhigen konnte – außer ihm selbst.

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Jenner

Und das neue Jahr geht dir erst wieder auf, als du es in den Todesanzeigen liest. Du bist unter deinesgleichen, unter Freunden – so sagen sie. Was das heute noch heißen mag steht auf einem anderen Blatt. Reziproke Nutzungsverhältnisse herrschen vor. Esprit wird nach außen getragen, Karierung. Nicht Ziehung, Beziehung. Ich hörte, mit Sonntagen habe das etwas zu tun. Entschuldige, hätte ich keine Blähungen, dann würden wir sicher etwas unternehmen, miteinander.

Da stehen Zwei innerhalb von vier Pfosten und schlagen sich ins Gesicht. Das Blut spritzt nicht, es platzt von der Stirn, von den Wangen. Tänzeln und Stampfen. Es gibt Regeln, ja, es gibt Technik auch hier. All das ist Kunst und Musik.

Ich sehe zu, sehe mir all das an. Dieses Verhalten zueinander, zu mir. Mein Sein in Bezug. Papier in nervösen Händen. Seit Monaten habe ich keine Zeile mehr erhalten von dir, Jahre werden daraus und ich alt dabei. Langsam ringeln sich falten auf meiner Haut grau sprießender Haare. Aus einem Ansatz wird Bauch, auch.

Haben sie sich so eine Beerdigung schon einmal angesehen? Da stehen sie alle aufgereiht und klatschen einander ab, beim kondolieren. Hinten an einem Seitentisch trinken die Sargträger und Totengräber bereits den ersten Schnaps nach getaner Arbeit. Wer will ihnen das streitig machen. Wer würde sich nicht betrinken wollen an diesen langen Tischen mit notdürftigen Gesichtern.

Mein Leben ist nicht episodenhaft, keine narratives Ganzes. Es liegt hinter mir als eine schiere Masse umgeformter Gedanken und loser Reime. Jetzt ist nicht Fluchtpunkt. Ordnung bringe ich in dieses Ding keine mehr hinein.

Schreiben hat nichts mit Genuis zu tun, mit Inspiration schon gar nicht. Glauben Sie Novalis wäre ein fauler Mensch gewesen, müßig durch die Wälder schweifend, ein bloßer Getriebener in dem Stollen des Wahns? Jede Hymne ist eine Fleißarbeit, ihre Strophen sind pure Arbeit. Aus einem hohlen Block Papier schneidet man in Stunden und Wochen ein Werk.

Auch Ich hielt mich für etwas besseres, beseelt von den Musen eh ich erkannte, dass Kalliope und selbst Euterpe höchstens halbtags arbeiten. Vielleicht sind sie auch nur gerade in Mutterschutz. Ich für meinen Teil setze mich nun jeden Tag eine Stunde hin. Hier. Ein Stuhl, ein Tisch, ein Stift. Komme, was wolle.

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gerichtet

1795
Des Olympus Harmonien empfangen
Den Verklärten in Kronions Saal,
Und die Göttin mit den Rosenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.

2006
Kartoffelwürfel, Suppengrün in
Brühe oder mit Kochwurst garen.
Die Graupen darunter
Mischen und abschmecken
Mit Petersilie, Salz
Und grünem Pfeffer.

2008
Drüsendurchsetzte
Falten der Haut
treiben den Schlaf
Aus unseren Nächten
Bist du geworden?
Schönheit ist immer
Schwellung des Lebens
Schicksalsschlag, du
Kling ab

2002
So bin ich nun ein dutzend Mal und mehr im Kreis gegangen, flüchte wieder, jederzeit, meinem Leben hinterher. Und wie es war, so ist es auch. Mein Geist versinkt in Trunkenheit. Und Rauch.

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warten lassen

Leg weg den Stift
Dich nimm in den Arm
In deine Schwerthand greif
Gib auf den Plan

Schnüre deine Lippen
Blumenbeet von Haar
Ist erst wieder Sommer
Werden wir ein Paar

Leidig ist das Leben
Losgelöst die Lust
Lass die Haare regnen
Bis uns Liebe ist

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Leitfaden zu Freiheit oder Glück

Gewohnheiten, Rituale sind es, die uns über den Tag bringen, durch unser Leben. Sie entheben uns jeder Reflektion – wir tun einfach, was wir schon immer getan haben. Stehen morgens auf, betreten das Bad auf die gleiche Weise, setzen uns an den gleichen Frühstückstisch und essen mit wiederkehrenden Handgriffen. Die Regelmäßigkeit dieser Handlungen ist für uns wesentlich wichtiger als deren Sinnzweck. Was wir essen, spielt keine Rolle. Dass wir essen ist notwendig, auch ohne jeden Appetit. Durch diesen Mechanismus enthebt sich das Leben, ist es erst zum Alltäglichen geworden, letztlich selbst der Frage nach dem außer ihm liegenden Sinn. Es wäre auch ungewohnt, weiter danach zu fragen.
Wie dem auch sei, Ich habe es geschafft. Die Gewohnheit zu Rauchen lässt sich durch das Kauen von Kaugummi ersetzen, Schweizer Kräuterzucker wird zum Substitut für synthetische Drogen. Ich finde Kompensationshandlungen für jedes menschliche Bedürfnis. Kein Akt mehr, der an oder für sich wichtig wäre. Das vorletzte Stadium sucht seine Befriedigung allein darin, dass man irgendetwas tut. Libertas indifferentia, die nächstmögliche Stufe zur absoluten Freiheit. Diese ist freilich nicht erreichbar, solange man noch auf objektivierende Handlungen angewiesen ist. Solange man sich noch verwirklichen muss. Dennoch weißt der Weg bereits in die richtige Richtung. Größte Indifferenz erreicht man nur durch letzte Entäußerung. Der Weg gabelt sich, einerseits Veräußerung, andererseits Vernichtung. Beides taugt zur Gewohnheit.

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