Das ganze Leben

Da steht ein Pult vor mir, rechteckig und mit buntem Plastik verkleidet. Auf dem Pult befinden sich sechs Knöpfe, in der Mitte liegt ein Schreibblock. Kein Stift. Links und rechts neben mir stehen  andere Leute an diesen Pulten und schauen nach vorn. Um uns herum ist alles dunkel. Auch ich schaue nach vorn. Da sitzt ein gut gekleideter Herr auf einer Art Hocker und lächelt uns freundlich an. Wir lächeln zurück. Was immer hier passieren soll, es hat wohl noch nicht stattgefunden. „Entschuldigung, aber ich habe keinen Stift“, sage ich. Nun lachen alle. Anscheinend brauche ich keinen Stift.

Aber wozu dann der Schreibblock? Ich überlege, erwäge einfach mal irgendeinen der Knöpfe zu drücken. Ich weiß aber nicht, was sie bewirken. Was, wenn ich etwas falsch mache? Ich bin eigentlich nicht der Typ Mensch, der einfach irgendwelche Knöpfe drückt. Um mich herum stehen alle regungslos, lächeln. Der Herr vor uns lächelt zurück. Vorsichtig drücke ich den obersten Knopf. „Wir sind noch nicht soweit“, flüstert mein Nebenmann. „Wie weit sind wir denn“, frage ich. Daraufhin lacht er. Es wird also bald beginnen.

Aber was? Was erwartet man von mir? Was, wenn ich etwas falsch mache? Ich gehe meine Taschen durch, sie sind leer. Ich versuche etwas in der Dunkelheit um uns herum zu erkennen. Die Scheinwerferkegel blenden zu stark. Weiter als bis zu den beiden Nebenpulten kann ich nicht sehen -und zu dem lächelnden Herrn vor mir. Dieser Schreibblock – was soll das? Soll ich etwas falten? Ich reiße einen der leeren Zettel ab und knicke ihn in der Mitte. Dann knicke ich ihn nochmal längs und wieder quer. Mein Nebenmann und ich schauen uns fragend an. Dann lacht er wieder. Ich verstecke mein Machwerk in der Hosentasche. Warum sind nirgendwo Kameras zu erkennen? Die Scheinwerfer blenden zu sehr, um sich sicher zu sein. „Entschuldigung, aber was“ – „Nanana, die Fragen hier stelle ich“, unterbricht mich der Herr lächelnd. „Was für Fragen?“, frage ich. Alle lachen. Das hier muss die Hölle sein.

Doch andererseits, was sollte ich auch im Paradies noch schreiben? Das stelle man sich einmal vor. Und für wen sollte ich dort schreiben? Worüber? Verdient das Paradies seinen Namen, wird man sicher etwas Besseres zu tun haben, als zu schreiben. Oder zu lesen. Warum soll man Augustinus lesen, wenn man mit ihm sprechen kann. Schreiben ist etwas ganz und gar unparadiesisches. Seit 12 Jahren liegt dieses Manuskript neben meinem Bett und wird zu keinem Buch. Wenn ich aufwache liegt mein Blick darauf, wie auf einem Stein. Die grauen Strähnen an meinen Schläfen, seit nun drei Jahren sind es Strähnen. Die kleinen Falten um meinen Mund – sechs Jahre. Und diese leeren Augen, ach wer weiß schon, wann die sich leerten. Mein Verfall hat begonnen, lange bevor ich ihn bemerkt habe. Katabolismus.

Ich gehe ein paar Schritte tiefer hinein und höre dieses Rauschen hinter dem Dickicht. Das sind nicht die sich im Wind wiegenden Bäume, das muss fließendes Wasser sein. Man riecht feuchte Erde und spürt den Nebel auf der Haut. Ich dränge mich durch das Buschwerk, biege die Äste beiseite und stehe am überwucherten Ufer. Tatsächlich, ein kräftiger Strom fließt zwischen den freigespülten Wurzeln hindurch, frisst sich in das Erdreich. Steine stemmen sich schäumend gegen die starke Strömung, werden langsam ausgeschwemmt, der Fluss schleift sie ins Tal hinunter. Blätter treiben schnell vorbei, loses Holz. Inmitten alldessen – der Fluten, der Steine, der Blätter und Bäume – steht eine Kuh, bauchtief im Wasser. Sonst niemand weit und breit.

Im Gegensatz zum vorangegangenen Quizshow-Traum ist dies ein reales Erlebnis gewesen, weder unmöglich noch unlogisch. Es ereignete sich innerhalb der Grenzen eines gesunden Menschenverstandes. Dennoch krankt das Bild an einem Mangel an Plausibilität, was aber der gesunde Menschenverstand des Öfteren tut – übrigens gerade in Bezug auf das weibliche Geschlecht. Frauen haben meist einen sehr gesunden Menschenverstand, deshalb ist in Bezug auf sie nichts unmöglich oder unlogisch, in beiderseitigem Einvernehmen. Schließlich ist das Gegenteil von gesund  nicht „falsch“, sondern ungesund. Der gesunde Menschenverstand nimmt gerne auch einmal Widersprüche in Kauf, um nicht an Wahrheiten kranken zu müssen. Pragmatismus.

Wie komme ich darauf? Weil ich plötzlich wieder an diese Kuh denken musste, in jener Situation, die ihren Ursprung an ganz anderer Stelle hatte. Bei ihr. Mit Frauen ist es ja oft so wie mit Kinderspielzeug, denn man beachtet Sie kaum, bis jemand anders anfängt, mit ihnen zu spielen – dann werden sie interessant. Ich weiß nicht, ob es an dieser Vorauslese liegt, oder purer Langeweile, jedenfalls sprang mir das Mädchen erst dann ins Auge, als ein anderer Mann begann, sich um sie zu bemühen. Nicht, dass ich mich im Anschluss selbst bemüht hätte. Das passt nicht zu mir. Und anschließend hatte ich diesen Traum von der Quizshow. Träume sind oft viel logischer, als die Realität. Ehrlicher und offener. Anders als die Esoteriker es einem weismachen wollen, geben sie einem selten große Rätsel auf. Man kennt die Lösung, die Intention – wie gesagt, anders als im Leben, wo man plötzlich vor der Situation steht, wie vor der Kuh im Fluss.

Und plötzlich stand sie vor meiner Tür. Ich hatte ganz ahnungslos auf ein Klingeln hin geöffnet, dachte es sei der Paketbote oder die GEZ, aber es war sie. Ich schaute ebenso verwirrt, wie damals am Flussufer. Sie sagte etwas. Ich nicht. Statt zu antworten, ging ich meine Taschen durch und tastete nach einem mehrfach gefalteten Stück Papier. Sie drängte sich an mir vorbei in meine Wohnung. Dann ging die Tür zu.

Ich weiß noch genau, dass bei uns zuhause die Bücher immer in Regalen standen, zwischen alten Fotos, kleinen Figuren und anderen Andenken. Das mag nun nicht sonderlich ungewöhnlich erscheinen, aber ich kann mich nicht an eine einzige Gelegenheit erinnern, bei der eines dieser Bücher nicht im Regal gestanden hätte. Ich sah auch niemals jemanden Hand an sie legen. Sie wurden nicht gelesen, sondern entstaubt. Vielleicht liegt deshalb das Manuskript noch immer unangetastet neben meinem Kopfkissen. Wenn ich aufwache, fällt mein Blick darauf und bleibt liegen.

Sie dagegen ist völlig unwichtig für mein Leben. Das ist mir klar, ihr sicher auch. Im Grunde schlafen wir nicht einmal miteinander, denn über Nacht bleibt sie nie. Wir reden miteinander, vögeln einander und sehen manchmal zusammen fern. Ich streiche durch ihr Haar, sie drückt sich an mich, so nah, dass ich ihr Lachen bäuchlings fühlen kann. Wahrscheinlich ist es anders herum genauso. Oder auch nicht – vielleicht bin ich ihr nicht einmal sympathisch. Ich werde sie nicht danach fragen.

Da lag ein Stein, scharfkantig und regenfeucht. Es war fast dunkel, doch im entfernten Schein der Laternen war er gut zu sehen. Man muss nur Ausschau halten, dann findet sich immer ein Stein. Ich hob ihn auf, holte aus und warf ihn mit aller Kraft in das Schaufenster. Er platzte gegen die Scheibe, knallte wieder zurück auf das nasse Pflaster der Fußgängerzone. Das Glas zeigte ein paar Risse, mehr nicht. Ich hob den Stein wieder auf und schleuderte ihn gegen dieselbe Stelle. Nichts. Wuchtig trat ich gegen die Scheibe, wieder und wieder, bis sie krachend zersplitterte. Das Glas schnitt tiefe Furchen in meine Schuhe.

Wenn wir so daliegen betrachte ich manchmal meine Arme, meine Venen, die sich dunkel und verworren darauf abzeichnen. Das ist, als schaute man aus einem Flugzeug auf große Flüsse herab. Höhenkämme und tiefes Blau. Manchmal lausche ich Ihnen nach, presse die Handgelenke fest gegen meine Ohren und höre dem Rauschen des Blutes zu. Das beruhigt.

Ich mag es nicht, wenn in Texten viel geflucht wird, oder wenn sich jemand beim Schreiben derber Ausdrücke bedient. Das soll wahrscheinlich lebendig klingen, nahe an der gesprochenen Sprache. Aber warum soll ich etwas lesen, das sich nicht einmal im Stil von dem unterscheidet, was die Leute so erzählen. Und ach, was erzählen die Leute, wenn man sie lässt: Fast immer wenn jemand glaubt, viel erzählen zu müssen, liegt dies einzig und allein an seiner mangelnden Bereitschaft, selbst noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken, warum er es mitteilen zu müssen glaubt. Und selbst dann heißt es noch lange nicht, dass es sich lohnen würde, ihm auch zuzuhören oder gar ihn zu lesen. In ihrem, ich nenne es einmal Brief, fanden sich übrigens jede Menge Kraftausdrücke und eine Vielzahl von Flüchen.

Manchmal spielen wir ein Spiel. Wir stellen einander Fragen von denen man weiß, dass der andere die Antwort nicht kennt und du musst dann natürlich schätzen oder raten. Ich frage dich nach der Höhe von Bergen, nach dem Alter von Menschen oder der Bedeutung eines Begriffs. Doch du rätst wohl nicht gerne. Meist antwortest du nur: „Woher soll ich das wissen?“.

Der Polizist versteht meine Motive nicht, ich kann sie ihm auch nicht wirklich plausibel machen. Das Blut an meiner Hose scheint jedenfalls Beweis genug, meine Ausreden sind unerwünscht und werden ignoriert. Es ist in der Gesellschaft nun einmal so: Alle diejenigen, die sich in einer Autoritätsposition befinden, müssen davon ausgehen, dass sie zu Recht dorthin gelangt sind. Und dass sie gut daran tun. Sie haben nun einmal das Wort. Wir hier unten müssen dagegen glauben, dass wir zu Unrecht unten sind. Dem entsprechend antworten wir und deshalb fragt uns auch niemand mehr, wie auch wir niemanden fragen müssen. Ich verstehe seine Motive also vollkommen. Und nein, ich wurde nicht auf der Flucht erschossen.

Aber das wäre auch ein viel zu dramatisches Ende für mich. Im Beenden von Dingen lag niemals eine meiner Stärken. Ich habe mit ihr deshalb nicht Schluss gemacht, da ich melodramatische Szenen so gar nicht leiden kann. Warum sie nicht mehr gekommen ist, darüber kann ich trotz dieses Briefes nur mutmaßen. Wahrscheinlich braucht jeder etwas, an das er glauben oder worauf er zumindest hoffen kann. Und das bin ich – sicher nicht.

 

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In Fahrt

Deine Augen liegen auf der Straße,
übermüdet, unterfordert,
abgespannt und aufgedreht,
der Kopf, voll Songs
und voller Verse

Du lechzt nach einem Drink,
nach einem feuchten Kuss
und dass es knallt,
im Kopf,der Kehle
oder auch nur untenrum

die Straße steht
der Himmel rast
dazwischen: Du

in Fahrt.

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Die politische Aktion

Festzuhalten bleibt abschließend, dass die politische Aktion heute keinesfalls unmöglich wäre, aber dass sie sinnlos erscheint. Diese Einschätzung beruht nicht auf jüngeren Ereignissen, wie dem Versickern der Antiglobalisierungsbewegung in Zeltlagern und Guerilla-Gardening, denn das ist ebenso wie das grundsätzliche Scheitern der Studentenproteste vor wenigen Jahren nur Symptom der gegebenen politischen Tendenzen. Sie zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie den Bürger vermehrt politisch deaktivieren. Damit ist nicht gemeint, dass die Bevölkerung keine Anteilnahme mehr an der Politik haben könne. Ihre Anteilnahme an Politik bleibt jedoch, soweit irgend möglich, aktionslos. Politik ist dabei nicht weniger präsent, als etwa in den 80er Jahren, sie ist stets im Fernsehen, sogar im Internet überall vertreten. Die Partizipation der Bevölkerung beschränkt sich hier jedoch völlig auf den Konsum, dazu kommt allenfalls der demokratische Kirchgang zu den Hochfesten der Wahljahre, Schlusssegen inbegriffen. Selbst diesen erlebt mittlerweile ein Großteil der Bevölkerung von zuhause aus, oder nimmt sie nicht einmal wahr.

Die politische Diskussion am Familientisch war unschicklich und ist nunmehr selbst an den früher so gerne bemühten Stammtischen ungern gesehen. Sie ist uninteressant. Das in Zeiten des sogenannten Web 2.0 mit seiner angeblichen Schwarmintelligenz und Hyperinteraktion nächstliegende Gegenmittel, von der Piratenpartei als liquid democratie angepriesen, ist hier jedoch nur die weitere Entkonkretisierung dessen, was ansonsten ernst gemeinte persönliche Partizipation im politischen Prozess sein könnte; – selbst wenn man es auf Bundesebene betriebe. Dieser Prozess (Entkonkretisierung, Demotivation) erscheint, wenn auch nicht von den Piraten, gezielt herbeigeführt. Das ist eine These.

Die Renaissance des Biedermeiers

Wir erleben eine Renaissance des Biedermeiers, des Rückzugs ins Private aus dem Gefühl heraus, dass man auf die Politik keinen Einfluss haben kann oder will. Kernmerkmal war und ist die gefühlte Ohnmacht, die darin resultiert, sich nicht mehr für Dinge zu interessieren, welche man nicht ändern zu können glaubt. Es stellt sich dabei, nicht in erster Linie vor dem Hintergrund schwindender Wahlbeteiligung, sondern vor allem angesichts der bröckelnden Zustimmung zu unserer politischen Verfassung als solcher die grundsätzliche Frage nach der demokratischen Legitimation des Staates. Ein demokratischer Staat, von dem seine Bürger nichts mehr wissen wollen, muss so handeln, als seien seine Bürger Idioten, die sie gesetzt des Falles auch de facto sind: Menschen, die sich für die öffentlichen Belange ihres eigenen Gemeinwesens nicht interessieren und folglich nichts darüber wissen. Das Ergebnis ist nicht demokratisch, jedoch auch noch keine Diktatur. Es wäre mit Pöbelherrschaft ebenfalls falsch umschrieben, denn im Grunde herrscht hier eine unter den Verhältnissen notwendigerweise populistische Elite über ein Volk, welches sie selbst dann nicht mitentscheiden lassen könnte, wenn sie es denn wollte, weil es auf Anfragen schlicht nicht antworten möchte. Anders gesagt: „Die da oben“ machen, was sie für richtig halten, weil „die da unten“ nichts anderes erwarten. Diese populistische Elite hat sich dabei freilich an die Spielregeln des Populismus zu halten: Brot & Spiele sowie die gelegentliche Hetzjagd einer alternierenden „Sau durchs Dorf“ runden das Ganz ab, erinnern im Herrschaftsstil an historische Vorbilder, die man aber angesichts der materiellen und technologischen Verhältnisse nicht übertragen zu können glaubt. Man kann es doch. Das ist eine aristokratische Senatsherrschaft. Und solange diese nicht massiv aus dem Ruder läuft, wird sich daran nichts ändern. „Es gibt Schlimmeres.“

Wer von den Verhältnissen ausreichend profitiert, dem kann jedenfalls dieser Rückzug der Masse in die Vereinsheime nur recht sein. Wer nicht ausreichend profitiert, der hat immerhin ein Vereinsheim. Oder ein Heim.

Das interessenlose Wohlgefallen

Diese Heimeligkeit  oder, um Kant falsch zu zitieren, dieses interessenlose Wohlgefallen ist aber nicht das, was politische Protestaktionen dermaßen entschärft, dass man lieber über die Kleidung und Smartphones von Demonstranten debattiert, als über ihre Ziele. Entscheidend war niemals, dass Verhältnisse überhaupt eine existentielle Bedrohung beinhalten, damit man sie als bedrohend, untragbar wahrnimmt. Es ist kein Problem des gesicherten, geschlossenen Seins, sondern des hermetischen Bewusstseins. Den Idioten kümmert nichts, nicht einmal der eigene Untergang. Und: Bei halbwegs wachem Verstande sind die Verhältnisse existenziell bedrohend. Hier in Mitteleuropa droht es spätestens in 40 Jahren eher ungemütlich zu werden (ob durch soziale oder ökologische Umstände), auf einem Großteil der irdischen Landfläche schon heute. Die Menschen krepieren in unwesentlich geringerer Zahl, als noch vor 20 Jahren. Nimmt man den Begriff „Verantwortung“ ernst, kann man das nicht akzeptieren, nicht einmal tolerieren. Es wird jedoch nicht mehr die Gewaltfrage diskutiert, sondern ob es ausreicht, im Super-Bio-Markt einzukaufen, um Teil der Lösung zu sein. Diese De-Eskalation bewirkt dabei das genaue Gegenteil dessen, was sie vorgibt, erreichen zu wollen, da sie nur mit dem eigenen Wohlgefühl verhandelt, anstatt zu handeln. Man vermeidet die gröbsten Fehler, ist aber dennoch Teil des Problems. Was will man auch machen?

Politische Gewalt ist in dieser Situation keine Lösung. Sie verbietet sich nicht (nur) moralisch, sondern rein strategisch. Dass es nicht funktioniert, „Bomben ins Bewusstsein zu schmeißen“ oder ein Volk zur Besinnung zu bomben, „das zeigt schon die historische Geschichte“. Gerade dort, wo das politische Desinteresse vorherrscht und das Primat der Privatheit gilt, wird jeder Gewaltakt in erster Linie als Angriff auf die private Sicherheit wahrgenommen, nicht auf den Staat. Man entführt einen Generalbundesanwalt und der Straßenkehrer denkt daraufhin: „Das hätte ich sein können“ – auch wenn die offensichtlichen sozialen Realitäten ihm hier deutlich widersprechen. Der direkte Versuch, Bewusstsein zu schaffen oder auch nur zu beeinflussen, scheitert ebenso, wie der indirekte über Medien, Texte. Man kann nichts sagen und nichts machen.

Was will man auch machen? Angesichts der bestens funktionierenden Verwertungskette unserer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die jegliche Insubordination nicht nur aushält, sondern absorbiert und zumindest deren Fassaden für ihre Zwecke zu nutzen weiß (Stichwort Super-Bio-Markt), stellt sich die Frage: Will man überhaupt etwas machen? Geistig gesunde Menschen sagen darauf erfahrungsgemäß einfach: „Ja.“ Doch es ist nicht unbedingt besser, etwas zu tun, das nichts bewirkt, als nichts zu tun. Purer Aktionismus hält zwar die Moral der Truppe aufrecht, das ist an dieser Stelle jedoch wahrlich nichts Gutes. Die Gesinnungs-Wellness, die sich durch selbst ernannte Alternative und „kreativen Prostet“ äußert, stabilisiert abermals nur, was hier kritisiert werden soll. Darüber hinaus erschöpft sich für die Beteiligten, wenn auch nicht immer die Kritik, so doch stets das Aktionspotential in diesen, nicht nur tolerierten, sondern erwünschten Protestformen. „Lasst die Studenten ruhig noch ein paar bunte Plakate malen, wenn sie danach ihren Moccachito weitertrinken.“ Dieses Treiben ist nicht politisch, sondern ein Amalgam aus Aktionismus und Resignation, die sich selbst nicht als solche wahr haben wollen. Bezeichnend dafür ist, dass ein Großteil der Demonstranten sich mittlerweile selbst als „unpolitisch“ einstuft. Wie wahr.

Fatalismus statt Aktionismus

Wenn zu Beginn der Kapitalismuskritik darüber gestritten wurde, ob man die „große Krise“ abwarten oder herbeiführen soll, erscheint durch die oben genannten Umstände letztere Möglichkeit gar nicht mehr zu bestehen. Die politischen Verhältnisse sind durch keine denkbare Aktionen zu ändern, oder auch nur zu beeinflussen. Selbst die politische Elite hat mit Mechanismen zu operieren, die alles andere als reformfreudig sind. Der Markt, die Politik, sie werden nicht mehr als Systeme, sondern als Maschinerien begriffen. Ganz zu schweigen davon, dass Niemand von Interesse ein selbiges hat, politische oder wirtschaftliche Reformen durchzusetzen. So fallen selbst die Politiker als politische Akteure aus. Die einzig verbliebene Verhaltensweise für den nicht idiotischen Rest der Bevölkerung kann wohl nur kalter, trostloser Fatalismus sein. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, die sich nicht durch Aktionismus zu betäuben sucht, sich aber auch nicht in sarkastische Resignation flüchtet. Denken kann man, jedoch nichts tun. Denn die politische Aktion erscheint nicht nur sinnlos, sie ist unmöglich geworden.

 

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Chauvinismus ist … masculin?

Man liest ja heuer eher selten von Helden. Zumindest seit dem Abgang von Guttenberg, der angeblich auf die Frage seiner Tochter, ob tote deutsche Soldaten Helden seien und ob sie stolz auf sie sein dürfe, „nicht politisch, sondern ganz einfach mit Ja geantwortet“ habe. Wie erfrischend ist es da, endlich mal wieder eine Überschrift wie diese zu lesen: Die Helden vom Ho-Chi-Minh Pfad.

In diesem Artikel der Zeit wird spannend und auf sehr anschauliche Weise berichtet, wie eine kleine Einheit Vietcong unter den widrigsten Umständen (Bombenangriffe, Minen, Agent-Orange, Benzinvergiftung etc.) Laster mit Nachschub für den Krieg gegen das kapitalistische Südvietnam über den gefährlichen Dschungelpfad zwischen Vietnam, Laos und Kambodscha fuhren. Ich als großer Freund der Militärhistorie lese so etwas ja immer gerne, muss mir dazu aber für gewöhnlich ein entsprechendes Fachmagazin kaufen, da die „linke Mainstreampresse“ der großen Zeitungen so selten über derlei Kampfgeschehen berichtet. Warum ist das hier anders? Weil es sich bei den Helden um Frauen handelt, um Heldinnen.

Frauen, Soldatinnen, Heldinnen

Erwähnenswert wird die ganze Geschichte wohl nur, da es sich laut Artikel um 42 Frauen handelt, die in diesem Krieg nicht nur eine Uniform trugen, sondern sogar LKW fuhren. Laut Autor hat das eine derartige Signifikanz, dass es den gesamten Vietnamkonflikt in einem neuen Licht darstelle – dennoch sei dieses Kapitel „fast vergessen“:

Der ehemalige Präsident des Landes, Nguyen Minh Triet, hatte zwar 2008 bei einem Veteranen-Treffen an die Tapferkeit dieser Frauen erinnert, die „ihre Jugend für die Partei und die Revolution opferten, und den Kampfgeist der Soldaten anspornten.“ Aber seit diesem 40. Jahrestag des Aufbaus der Brigade hat offenbar kein Würdenträger oder hoher Partei-Funktionär die Fahrerinnen mehr erwähnt. Da verwundert es wenig, dass amerikanische und europäische Historiker die Frauen-Brigade bisher nicht wahrnahmen oder sogar deren Existenz bezweifeln

Natürlich abgesehen von den zwei wissenschaftlichen Abhandlungen, die mittlerweile über das Thema erschienen sind und sich unter den ersten 3 Google-Treffern finden, ebenso wie die Reportage in Spielfilmlänge, die dazu an mehreren Universitäten gezeigt wurde. Ach ja und dann gibt es ja noch eine Ausstellung im Frauenmusem von Hanoi, der Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam, aus deren Quellen der Autor des Artikels offensichtlich all seine Informationen hat.

„Die Frauen haben sich für ihr Land und für ein Leben in Freiheit aufgeopfert“, sagt die Leiterin des Frauenmuseums in Hanoi.

Man darf sich fragen, ob solch ein Zitat je seinen Weg in die online Ausgabe der Zeit gefunden hätte, wenn es sich bei den Soldaten um Männer gehandelt hätte. Und man darf sich fragen, wann die Zeit es das letzte Mal beklagt hat, dass „kein Würdenträger oder hoher Partei-Funktionär“ einer sozialistischen Republik die Leistung von Soldaten ausreichend gewürdigt hätte.

Oder doch nur Opfer?

Diese Fragen stellt sich offenbar auch die Redaktion der Zeit selbst und hat nunmehr das pathetische „Heldinnen“ der Überschrift in ein schlichtes „Frauen“ abgeändert. Auch steht der halbe Artikel nunmehr im Konjunktiv. Nicht als Zitat kenntlich gemachte Übernahmen aus den Propagandaschriften der Sozialistischen Republik Vietnam werden nach und nach entfernt. Man versucht nun die Opferrolle der Soldatinnen zu betonen. Von Helden zu Opfern, so schnell kann es gehen. Und dann haben wir es wieder ganz klassisch.

Opfer ist hier aber wohl in erster Linie der Autor des Artikels, und zwar ein Opfer seiner eigenen Vorurteile. Man kann sich den Gedankengang leicht vorstellen: „Frauen im Krieg und die fahren sogar LKW! Das wird der Knüller.“ Wieder einmal bestätigt man dadurch eben jene Klischees, die man in Zweifel ziehen wollte. Weil man sie schlicht nicht bezweifelt – deutlicher Ausdruck ist dabei die ungefilterte Nutzung von Propagandamaterial eines nun nicht unbedingt für seine Wahrheitsliebe bekannten Regimes, einzig und allein weil es eine tolle Story, eine Heldengeschichte erzählt. Wenn man den Geschichten, die der Autor zitiert, Glauben schenken darf, so wundert man sich nun doch, dass sich noch heute 40 von den 42 damals eingesetzten Frauen mehr oder minder bester Gesundheit erfreuen, wie man dem angeführten Gruppenbild entnehmen darf. Jedenfalls lächeln alle. Schöne, heile, sozialistische Welt.

Dieser Artikel nutzt nicht nur Propaganda, er ist Propaganda. Als nächstes erscheint womöglich ein Artikel über die „Heldinnen“ in Gaddafis ausschließlich weiblicher Leibwache. Offen bleibt nur – waren sie nur Heldinnen, oder Heldinnen und Opfer zugleich?

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Nach Aktenlage

Am 9.Juni 2004 stellt ein etwa 30jähriger Mann vor einem Friseursalon in der Mülheimer Keupstraße sein Aldi-Rad ab. Auf dem Gepäckträger ist ein Hartschalenkoffer fest montiert. Auf seinem Weg in die Keupstraße zeichnet den Mann eine Überwachungskamera des Fernsehsenders Viva auf, der sich direkt um die Ecke befindet. Kurze Zeit später explodiert eine mit Tischlernägeln gespickte Bombe, die eine solche Wucht entwickelt, dass die Nägel parkende Autos durchschlagen, den Friseursalon völlig zerstören und in Brand setzen. 22 Menschen werden davon getroffen, 4 davon schwer verletzt. An diesem Tag stirbt niemand. Es war anders geplant.

Die Bombe, bestehend aus einer kleinen Gasflasche, mit Schwarzpulver und einer Glühlampe versehen, wird durch eine Modellbaufernbedienung gezündet. Sie ist der sichtbare Höhepunkt einer Mordserie an mindestens 10 Menschen, die als „Heimatschutz“ begann.  Schon am Folgetag werden  Landes- und Bundesinnenminister einen fremdenfeindlichen Hintergrund als pure Spekulation abtun. Das Motiv liegt ihrer Ansicht nach höchstwahrscheinlich im mafiösen Umfeld begründet. In der Keupstraße wohnen und arbeiten schließlich großteilig Ausländer. Terrorismus wird auch für möglich gehalten, islamistischer Terrorismus. Seit Ende 2003, als die Amerikaner ihre Invasion des Iraks abgeschlossen haben, sind Selbstmordanschläge und Autobomben jeden Tag in den Medien. Ein Bundespräsident wird sich für diese Einschätzungen später einmal entschuldigen. Deutschland wird sich fragen, wie man so blind sein konnte. Und dann zum Normalfall übergehen.

Am 4. November 2011 begehen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt ihren mittlerweile 14. Banküberfall, um die Mordmaschinerie und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Doch diesmal geht etwas schief, ein Passant beobachtet die beiden, als sie die zur Flucht genutzten Fahrräder in ihren gemieteten Wohnwagen quetschen. Er informiert die Polizei, die nun erstmals nach einem Wohnwagen fahndet. Als sie diesen kurze Zeit später aufspürt und sich die Beamten zum Zugriff nähern, hören sie einen Knall und gehen in Deckung. Es folgt noch ein Knall. Plötzlich beginnt der Wohnwagen zu brennen. Mundlos und Böhnhardt sind tot. Es sind zwei von fast zwei Dutzend Personen, die mittlerweile zum Kreis der NSU gezählt werden. Und es sind zwei der drei Haupttäter, die ein Jahrzehnt lang immer wieder kaltblütig Menschen aus nächster Nähe mit Pistolenschüssen hinrichteten.

Am 11.November 2011 liegt bei den Verfassungsschutzbehörden der Länder eine Anfrage der Bundesanwaltschaft vor, Akten zu den identifizierten Tätern zusammenzutragen und sie den Ermittlern zur Aufklärung der Zusammenhänge um den nunmehr bekannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ zu übermitteln. Im ausgebrannten Wohnwagen wurden mittlerweile die Tatwaffen der Morde sowie Bekenner-DVDs gefunden – man ahnt das Ausmaß der Verbrechen. Die Medien berichten. Und die Beamten tun, was ihnen aufgetragen wurde, sie sichten alle Akten, die der Verfassungsschutz über die betreffenden Personen aus dem Umfeld der NSU gesammelt hat – und das sind einige. Die Täter sind dem Verfassungsschutz alles andere als unbekannt. Sie wurden wohl auch im Rahmen der geheimen „Operation Rennsteig“ auffällig, eine Überwachungsaktion, die der rechten Szene in Thüringen galt, in der die Täter Unterstützer fanden und wo sie untertauchen konnten.

Plötzlich geschieht etwas Seltsames. Mindestens ein Beamter wirft den Reißwolf an, löscht mehrere Akten nach nochmaliger Durchsicht. Angeblich aufgrund von Ablauffristen. Andere, ebenfalls von diesem Umstand betroffene Akten, werden nicht vernichtet. Es wird ein halbes Jahr dauern, bis dieser Umstand der Öffentlichkeit bekannt wird. Inzwischen gibt es den Verdacht, die Täter könnten vom Verfassungsschutz finanzielle Zuwendungen erhalten haben, als V-Männer angestellt gewesen sein, um eine Szene zu überwachen, deren extremste Mitglieder sie waren. Akten, genau solche Überwachungsaktionen betreffend, wurden am 11. November, eine Woche nach dem Fund von Mundlos und Böhnhardt, vernichtet. Beate Zschäpe, die dritte Haupttäterin, saß da schon im Gefängnis und verweigert bis heute jegliche Aussage.

Mittlerweile befasst sich mit all dem ein Untersuchungsausschuss, dessen Mitglieder fraktionsübergreifend von skandalösen Vorgängen im Verfassungsschutz sprechen. Verschwörungstheorien könne man so nur schwer mit Fakten begegnen, hört man da. Einige hochrangige Minister mussten ihren Hut nehmen. Vor einigen Tagen nahm noch einmal Innenminister Hans-Peter Friedrich zu den Vermutungen Stellung, ob die NSU-Mitglieder nicht doch V-Leute gewesen seien und Geld vom Verfassungsschutz erhalten hätten, während dieser ihrem Treiben mehr oder minder tatenlos zugesehen hätte. Friedrich hielt das für wenig wahrscheinlich. Aus den nun vorliegenden Akten gehe so etwas nicht hervor. Und der Beamte aus dem Verfassungsschutz? Der schweige, werde sich aber verantworten müssen. Das sei schließlich der Normalfall.

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